Wenn ein Eierschneider zum Instrument wird

Gürzenich-Orchester Köln, François-Xavier Roth, Dirigent, Mahan Esfahani, Cembalo Kölner Philharmonie, 13. September 2022

Gürzenich-Orchester, Copyright: Holger Talinski, Quelle: https://www.guerzenich-orchester.de/de/press)

Kölner Philharmonie, 13. September 2022

Gürzenich-Orchester Köln
François-Xavier Roth, Dirigent
Mahan Esfahani, Cembalo

Miroslav Srnka – „Standstill“ – „with an all-forgivin peace“ für Cembalo und Orchester, 2022 – Kompositionsauftrag des Gürzenich-Ochesters Köln und des Rundfunk-Sinfonieorchesters Prag

Anton Bruckner  – Sinfonie Nr. 3 d-Moll WAB 103, 1. Fassung 1872-73

 Zugabe: Jean-Philippe Rameau – Gavotte mit 6 Variationen


von Daniel Janz

Der Eierschneider ist ein vielseitiger Gegenstand. Filigran geformt aus Metall mit scharfen Saiten, eigentlich zum Zerschneiden kleiner Leckerbissen gedacht, kann er durch sie Klänge für den Konzertsaal erzeugen. So ist jedenfalls die Interpretation von Miroslav Srnka (47) aus Prag. In seinem extra für das Gürzenich-Orchester Köln sowie das Sinfonieorchester Prag komponierten Werk „Standstill“ weist er diesem ungewöhnlichen „Instrument“ als Ausdruck von „Schneeflockenrauschen“ eine Paraderolle zu. Was daraus folgt ist eine Uraufführung der besonderen Art.

Cembalo und Eierschneider – so ließe sich das Einstiegswerk des heutigen Abends auch zusammenfassen. Die Konzeption ist durchaus interessant. Gerade auch nach der Entwicklung des Pianos um die 1690er Jahre verlor das Cembalo nämlich immer mehr an Bedeutung. Zu leise, zu wenige Ausdrucksmöglichkeiten – hier ist das Klavier bis heute überlegen. Damit ein Cembalo als Soloinstrument hörbar bleibt, darf es nicht vom Orchester zugedeckt werden. Der Klang also, den die Streicher mit ihren (wie Srnka sie nennt) kleinen „Harfen“ – den „hard boiled egg cuttern“ – erzeugen, wirkt durchaus wie eine spannende Untermalung des solistischen Spiels.

Miroslav Srnka © Vojtěch Havlík, Homepage des Komponisten

Dem gegenüber stehen Orchestereinsätze, die bestenfalls etwas Schizophrenes, im Schlimmsten etwas Chaotisches haben. Hier tättern alle durcheinander, mehrmals sticht das Akkordeon mit seinen Wiegenlauten hervor oder die Bläser, die dieses Motiv übernehmen. Es ist extreme Bewegung im Orchester aber bei musikalischem Stillstand – dieses Werk vollzieht keine Entwicklung. Der Komponist weist selbst darauf hin: „Eine Struktur kann reich sein und trotzdem Leere beinhalten“. Vom Klangeindruck kann man nur zustimmen – das ist leere Musik. Besonders inhaltsleer. Da irritiert dann auch das Handybimmeln einer Dame in der Nähe vom Rezensenten mit original Retro-Telefonklingelton mitten in der Aufführung nicht mehr.

Dazu kommen von Plexiglasplatten erzeugte „boop-boop“-Geräusche. Das ist wohl ernst gemeint, der Rezensent konnte sich aber nur schwer das Lachen verkneifen. Denn der hier entstehende Eindruck von Wasserblubbern ist bestenfalls unglücklich im Hinblick auf die Eierschneider, die Srnka stilistisch so sehr hervorhebt. Dadurch entstehen Assoziationen, als wäre er zum Säubern seiner neu entdeckten Instrumente in die Küche gegangen und würde das den Abfluss herabgluckernde Wasser beäugen. Abwasch ahoi – da ist sie dann leider passé die Vorstellung vom alles vergebenden Frieden, den der Komponist in seiner „völligen Stilllegung“ beschwören will.

Zumindest muss einem der Solist nicht leidtun. Mahan Esfahani (38) aus Teheran wird zwar regelrecht über sein Cembalo getriezt und ja, klanglich könnte man sich Ergreifenderes vorstellen. Aber Schönheit ist eben auch eine Frage des Geschmacks. Und der Elan und die Genauigkeit, mit der er am Instrument sitzt, sind mindestens so beeindruckend, wie seine ausgestrahlte Leidenschaft. Ob in den alleingelassenen Auftaktakkorden, bei den rasanten Glissandi, die er im Zwischenteil ausführt oder den Clustern am Ende – er erweist sich als Generalspezialist an seinem Instrument.

Mahan-Esfahani. © Bernhard Musil

Schade, dass er so selten Klänge rausholen darf, die das Gehör ansprechen. Denn die unstrukturiert wirkenden Klangwelten, die Srnka ihm auferlegt, machen es selbst bei einem solchen Klassespieler schwierig nachzuempfinden, was er da ausdrücken soll. Hätte er sich hier verspielt –niemand hätte es gemerkt. Im Verlauf muss Esfahani gar wild mit den Handflächen auf das Cembalo eindreschen oder es mit dem Unterarm bearbeiten. Das kennt man aus dem Kindergarten, aber muss das unbedingt in den Konzertsaal? Am Ende kommt sogar der Dirigent zum Halten der Pedalregister dazu, damit Esfahani die ihm vorgeschriebenen Exzessen bis zur völligen Stille führen kann.

Exzessiv wird es auch in Esfahanis Zugabe – hier jedoch im positiven Sinne. Als er zu Jean-Philippe Rameau greift, sausen seine Hände erneut über das Cembalo. Diesmal kitzeln sie jedoch beispiellose Melodik aus dem Instrument. Mit der Geschwindigkeit, in der er sechs unterschiedliche Variationen eines Themas darbietet, kann das Gehör kaum mithalten. Geradezu tänzerisch präzise! Hier wird dann auch eine andere Qualität des Abschlussapplauses deutlich. Während er dem Rezensenten bei Srnkas Werk verhalten vorgekommen war – bestärkt durch die Beobachtung, dass einige Zuhörer sich ganz dem Applaus verweigert hatten – stechen hier Bravorufe und tosende Begeisterung hervor. Ist das ein Zeichen dafür, dass aller Klangkunst zum Trotze Melodie und wiedererkennbare Themen doch auch erwünscht sind?

In einer Zeit, in der sich moderne Komponisten zu sehr auf das Erschaffen neuer Klanggemische einschießen, darf eine solche Annahme nicht verwundern. Gerade auch dann, wenn sie noch versuchen, ihre Experimente mit irgendwelchen mal näherliegenden, mal weithergeholten Konzepten zu füllen. Ja, das Werk von Srnka hatte interessante Aspekte und der Rezensent musste schon schlimmere Erlebnisse mit modernen Uraufführungen über sich ergehen lassen. Aber wer – wie der Rezensent – kein ausgesprochener Freund experimenteller Klanggemische ist, wird mit „Standstill“ nicht viel anfangen können. Als Konzerterlebnis war das jedenfalls eher Zeugnis einer verkopften Denkaufgabe, als einer musikalischen Inspiration.

Im Vergleich zur ersten Konzerthälfte breitet sich Bruckners dritte Sinfonie wie eine Decke des Wohlwollens aus. Hier vibriert es bereits ab der ersten Note. Es ist aber auch ein grandios strahlender Einstieg, den der Dirigent François-Xavier Roth (50) aus den Musikern kitzelt. Bewusst entschied er sich für die erste Fassung des Werkes, die länger und weniger pointiert ist, als die bekannte zweite. Der gut abgemischte Klang unterstreicht aber auch in dieser Urversion das Hauptmotiv. Dadurch sticht dieses Thema stets hervor, mit dem Bruckner den ersten Satz fast leitmotivisch durchzog. Eine nicht zufällige Assoziation – immerhin widmete der Komponist dieses Werk seinem Idol Richard Wagner nach einem ersten gemeinsamen Treffen.

Hervorzuheben ist hier der Elan, mit dem der in Neuilly-sur-Seine, Frankreich geborene Chefdirigent des Gürzenich-Orchester Köln durch die Tonarten führt. In seiner Auseinandersetzung mit der Musik stellt man fest, dass ihn die groben Kompositionsfassungen reizen. Wie ein Rohdiamant, den er zur Aufführung nachschleift. Kleinste Akzente und sogar Pausen bestimmt er geistesgegenwärtig. Einzig die Wechsel von Soli zu den Tuttieinwürfen des ersten Themas geraten etwas grob – hier hätten weichere Einsätze die Übergänge fließender gestaltet. Spätestens zum Höhepunkt sitzt aber alles wie aus einem Guss. Folge: Von den Streichern über das Holz zu den Blechbläsern bis zur Pauke – hier brillieren alle.

https://www.on-mag.fr/index.php/topaudio/musique/20629-cd-francois-xavier-roth-transfigure-la-symphonie-fantastique

Der zweite Satz reicht nicht ganz an das Niveau des ersten heran, was aber eher ein Problem der Komposition als der Aufführung ist. Hier fällt am meisten auf, dass diese erste Sinfoniefassung doch etwas ungelenkt ist. Der Satz ruht vor sich hin und stellt besonders die fließenden Streicher in den Vordergrund. Ausgeschmückt werden sie durch dahingleitende Soli im Horn und den Holzbläsern. Dieser vom Gürzenich-Orchester routiniert herausgearbeitete Fluss erlebt zum Satzende hin auch einen Höhepunkt, der jedoch dadurch an Wirkung verliert, dass seine Vorbereitung etwas zu lang ausfällt. Ein Punkt, der in Bruckners Revision 1876 verbessert wurde.

Stark beeindrucken können indes Satz 3 und besonders das Finale. Bruckners noch nicht ganz ausgereifte Erstfassung zum Trotze kann das Orchester hier einmal richtig losbrausen. Im dritten Satz tanzen sie alle vor sich hin, während die Blechbläser dies mit ihrem goldenen Kraftklang unterlegen. Und im vierten Satz entsteht dann ein Fest der Kontraste. Bruckner selbst inszenierte hier eine Festgesellschaft, die in einem Saal neben einer Kapelle feiert, in der gerade ein Sarg aufgebahrt wird.

Aus diesem szenischen Eindruck zauberte Bruckner einen Abschluss mit Ohrwurmcharakter, den dieses Orchester in geradezu jugendlicher Frische darbietet. Besonders zum Finale donnern sie dann alle noch einmal kräftig drein und krönen so einen Abend, der vor allem kontrastreich war. Mit jubelndem Applaus honoriert das Publikum dieses Erlebnis. Und auch der Rezensent möchte als Schlusswort festhalten: Eine Bruckner-Aufführung des Gürzenich-Orchester Köln ist doch immer wieder eine Freude. Egal, zu welcher Version sich der Dirigent entschließt.

Daniel Janz, 15. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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