»Rusalka« an der Semperoper Dresden: Ein dunkles und grandioses musikalisches Seelendrama

Antonín Dvořák, Rusalka,  Semperoper Dresden, 7. Mai 2022 (Premiere)

Foto: Elena Guseva als Fürstin (l.), Olesya Golovneva als Mensch-werdende Nixe Rusalka und Pavel Černoch als Prinz gehören zum hervorragenden Ensemble der aktuellen „Rusalka“-Inszenierung in der Semperoper. Foto: L. Olah/Semperoper

Semperoper Dresden, 7. Mai 2022 (Premiere)

Antonín Dvořák, Rusalka 

Eine Koproduktion mit dem Teatro Real Madrid, dem Teatro Comunale di Bologna, dem Gran Teatre del Liceu Barcelona und dem Palau de les Arts Reina Sofía, Valencia

Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden

Musikalische Leitung, Joana Mallwitz

von Pauline Lehmann

In der Neuinszenierung an der Semperoper Dresden zeigt der Regisseur Christof Loy eine menschliche Rusalka, eine junge Frau, die aus einem dekadenten und einengenden Milieu ausbrechen und mit beiden Beinen im Leben stehen möchte, um zu lieben und geliebt zu werden. Gänzlich in der Menschenwelt verbleibend, versperrt sich die Inszenierung einer romantischen Sichtweise, welche die märchenhafte und mythische Welt zum idyllischen Fluchtraum verklärt. Christof Loy geht weiter oder besser gesagt tiefer: Mutet die Inszenierung anfangs teils als Adoleszenz-Drama und naturalistische Milieu-Studie an, dringt der Regisseur symbolistische Untiefen erkundend ins Innere der Figuren vor und legt somit ihre Wünsche, Hoffnungen und Abgründe, kurzum das Tiefmenschliche offen.

Die Welt des Wassermanns und der Nymphen, der von dunklen Wäldern umgebene, nächtliche See stellt sich hier als eine dekadente Theaterwelt dar, die ihre besten Zeiten bereits hinter sich gelassen hat oder auch niemals hatte und von der männlichen Autorität des Theaterdirektors alias des Wassermanns beherrscht wird. Die Szenerie wirkt leer, die wenigen Figuren – darunter ein trauriger Clown – sind missmutig, verängstigt oder beinahe verstört. Das Scherzen der Nymphen mit dem Wassermann, ja die gesamte Anfangsszenerie in dem von Gott und der Welt vergessenen Theater flirrt vor sexuellen Avancen.
Johannes Leiackers Bühnenbild greift auf Fotos der Prager Nationaloper zurück, die vor drei Jahren während der Renovierung des Hauses entstanden. Ein steinernes, graues, kahl und kalt wirkendes Rund wird zum Ort der Bühnenhandlung. Die Decke ziert ein weißer Kronleuchter, die Wände sind mit verspielten Neorokoko-Ornamenten verziert. Zwei Wandskulpturen – Seejungfrauen, die einen Spiegel als Symbol für das Erkennen emporhalten – bilden das Lyrische Märchen plastisch ab. Im Bühnenhintergrund deutet sich von Rundbögen umgeben ein Rundfoyer an. In den spärlich ausgestatteten und durch die Holzbretter und das Wandlaken ebenso provisorisch wie vergessen anmutenden Theaterraum schieben sich große Felsmassive herein. Denkt man sich eine grüne Idylle am Ufer eines Sees, könnte der Kontrast kaum stärker sein. Auf diese Weise treten jedoch die Figuren in den Vordergrund; in symbolistischer Manier tritt die innere Wirklichkeit vor das äußere Bild.

Mit dem Interieur der Prager Staatsoper und den Bornholmer Felsen holt Johannes Leiacker außerdem die Entstehungsgeschichte des Werkes ins Bild, denn Jaroslav Kvapil inspirierte eine Reise im Herbst 1899 auf die dänische Ostseeinsel Bornholm für sein Libretto und schließlich hob sich am 31. März 1901 der Vorhang für Antonín Dvořáks Lyrisches Märchen an keinem anderen Ort als in Prag – jedoch am Tschechischen Nationaltheater und nicht an der heutigen Prager Staatsoper, dem damaligen Deutschen Theater.

Ein verletzter Fuß hält Rusalka davon ab, so wie vermutlich einst zusammen mit ihren Schwestern, den Nymphen, zu tanzen. Ihre mühsamen Lauf- und Tanzversuche sind vergeblich, auf Krücken gestützt humpelt sie umher und bricht zusammen, sie ist in ihrem Bett eine Gefangene ihrer trostlosen Situation. Die Hexe mit dem befreienden wie verfluchenden Zauber ist Rusalkas Stiefmutter, eine ehemalige Theatermanagerin und Hausfrau, eine alternde Diva mit Gänseblümchen-Schürze, deren Refugium das Kassenhäuschen ist.

Das Hochzeitsfest beim Prinzen verfällt der Erotik und steigert sich immer mehr in eine hemmungslose sexuelle Orgie; der irdische Prunk ist durch und durch lasziv, voller Hohn, Spott und Kälte. Ursula Renzenbrinks in Schwarz und Weiß gehaltene Kostüme unterstreichen dies. Die fremde Fürstin ist in ein prunkvolles schwarzes Kleid mit spitzem V-Ausschnitt und Stola gekleidet, allein die auf dem Fest verlorene Rusalka trägt ein leichtes geblümtes Sommerkleid. In der Dreierkonstellation zwischen dem Prinzen, der fremden Fürstin und Rusalka setzt Christof Loy auf die psychologische Tiefe der Figuren. Auch das Duett zwischen Rusalka und dem Prinzen im dritten Akt, ihr erstes und einziges Beziehungsgespräch, ist dramatisch durchdrungen und wirkt reflexiv. Den Schwerpunkt seiner Regie-Arbeit setzt Christof Loy darauf, wie er die zwischenmenschliche Kommunikation, das Verstehen oder eben Nicht-Verstehen, auslotet. Aber auch Komisches darf nicht fehlen, wie die Slapstick-Einlagen des Wildhüters und des Küchenjungen, jenes Paares, welches die Geschehnisse am Hof dem Publikum komödiantisch übermittelt und mit der legendären und doch nicht überstrapazierbaren Leiter-Nummer auftritt.

Die bleiche und verletzte Rusalka ist nicht nur eine Femme Fragile, sondern verkörpert eben auch die tanzende und reich geschmückte Salome, jene todbringende Verführerin, die das Haupt von Johannes dem Täufer fordert. Im Schlussbild geht sie dann als eine irrlichternde, weiß gekleidete Loreley über das mittige Felsmassiv von der Bühne ab und in eine ungewisse, zeitlose Zukunft, dem Meer und einem mit dunklen Wolken verhangenen Himmel entgegen.

Von den minutiösen (non)verbalen Interaktionen lebend, wo die väterliche Fürsorge des Wassermanns und die Liebe des Prinzen beständig in sexuelle Übergriffe und Gewalt umzuschlagen droht, lebt die Inszenierung von der Tiefe der Figuren und dem großartigen Ensemblespiel. Für die Sänger*innen gibt es keinen Halt. Christof Loy setzt auf ein Musiktheater ohne doppelten Boden und vertraut auf das Vermögen des Ensembles. Besonders zu erwähnen ist an dieser Stelle Constance Heller, die Dritte Nymphe. Sie verletzte sich während der Hauptprobe am Arm und klettert genau wie ihre Bühnenschwestern trotz des bandagierten Armes über die abenteuerlich anmutenden Felsen.

Und der Abend ist voller Debüts: Allen voran die musikalische Leiterin, Joana Mallwitz: Sie gibt ihren Einstand am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden, den sie mit Bravour meistert. Mit Elan und Verve lässt sie Dvořáks impressionistische und den Stimmungen der Figuren nachspürende Tonsprache fließen. Im Sänger*innen-Ensemble gibt Pavel Černoch als Prinz sein Hausdebüt. Er als auch Alexandros Stavrakakis als Wassermann nehmen die Ambivalenz der männlichen Figuren auf – mal lyrisch schmachtend und liebreizend, mal harsch, drohend und warnend. Weiterhin zählt der Abend acht Rollendebüts: Außer Pavel Černoch, Elena Guseva als fremder Fürstin und Olesya Golovneva in der Titelpartie sind alle neu in ihrer Rolle. Olesya Golovnevas Sopran ist im »Lied an den Mond« warm timbriert, das Strophenlied klingt bei ihr hell und schlank. Sie balanciert die Titelpartie zwischen bleicher Femme Fragile und verführerischer Femme Fatale eindrücklich aus. Christa Mayer als Hexe kann keiner etwas vormachen, um das Schlechte in der Welt weiß sie genauestens Bescheid.

Pauline Lehmann, 9. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Inszenierung, Christof Loy
Szenische Einstudierung, Johannes Stepanek
Bühnenbild, Johannes Leiacker
Kostüme, Ursula Renzenbrink
Licht, Bernd Purkrabek
Choreografie, Klevis Elmazaj
Chor, Jonathan Becker
Dramaturgie, Juliane Schunke

Der Prinz, Pavel Černoch
Die fremde Fürstin, Elena Guseva
Rusalka, Olesya Golovneva
Der Wassermann, Alexandros Stavrakakis
Die Hexe, Christa Mayer
Der Wildhüter, Sebastian Wartig
Der Küchenjunge, Nicole Chirka
Erste Nymphe, Ofeliya Pogosyan
Zweite Nymphe, Stepanka Pucalkova
Dritte Nymphe, Constance Heller
Ein Jäger, Simeon Esper

Tänzer*innen

Peter Rösel, Klavierabend, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, Kulturpalast Dresden, 8. April 2022

Ausblick auf die 45. Dresdner Musikfestspiele vom 11. Mai bis 10. Juni 2022, klassik-begeistert.de

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