Bach und Brahms liegen den Zuhörern mehr als fernöstliche Experimentalmusik

Bamberger Symphoniker, Jakub Hrůša, Wu Wei, Chin, Hosokawa, Brahms,  Kölner Philharmonie

© Andreas Herzau

Christian Schmitt Orgel
Wu Wei Sheng
Bamberger Symphoniker – Bayerische Staatsphilharmonie
Jakub Hrůša Dirigent
Unsuk Chin – Šu (2009) – Konzert für Sheng und Orchester
Toshio Hosokawa  – „Umarmung“ – Licht und Schatten (2016)
für Orgel und Orchester
Johannes Brahms – Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98 (1884–85)
Kölner Philharmonie, 30. April 2017

von Daniel Janz

Zu Beginn des Konzertes steht ein Mann alleine im Mittelpunkt. Was er in der Hand hält, ähnelt einer Skulptur aus Röhren auf einem runden Sockel. Der Mann heißt Wu Wei, und das faszinierende Gebilde ist eine Sheng – eine traditionelle, chinesische Mundorgel, deren Klang wie von einem anderen Stern anmutet.

Auf solch außergewöhnliche Klänge muss man sich einstellen, wenn man eine Veranstaltung von „ACHT BRÜCKEN – Musik für Köln“ besucht. Seit 2011 stellt diese Konzertreihe moderne Kompositionen vor, hauptsächlich aus dem Genre der Neuen Musik. Begleitet von Workshops, Filmbeiträgen und Ausstellungen stehen Werke im Fokus, die durch neuartige Techniken sowie ungewöhnliche Instrumente und Klänge hervorstechen.

Ein solches Werk erwartet die Zuhörer mit „Šu“ von der Komponistin Unsuk Chin zum Auftakt der Bamberger Symphoniker in der Kölner Philharmonie. Im Mittelpunkt steht die Sheng. Viel Zeit lässt sich Wu Wei für den ersten Einsatz. Was dann ertönt, klingt wie eine Mischung aus Mundharmonika, Akkordeon und Klarinette – ein schwirrender Klang, begleitet von kaum hörbaren und sehr hohen Streichern. Die Zuhörer tauchen in eine neue Welt ein, in einen mitreißenden Fluss, der einen nicht mehr zu Atem kommen lässt.

Der Verlauf ist geradezu berauschend, wenn nicht sogar alptraumhaft. Ein Schwirren füllt den Raum, das große Schlagzeugrepertoire bäumt sich auf und stößt dieses Schwirren immer wieder auf seinen Ursprung zurück: die Sheng. Wu Wei zelebriert die ganze Vielfalt seines fernöstlichen Instrumentes und spielt dabei gegen das große Orchester an, das stets droht, den Hörer mit seinen Reizen zu überfluten. Der Pianist bearbeitet sein Instrument mit Schlägeln und einem Hammer, Geigen untermalen das schwirrende Geräusch der Sheng, Mundharmonikas kommen zum Einsatz.

Als diese Geisterfahrt aus Fernost zu Ende ist, haben die Zuhörer viele Fragen. Es gibt Applaus, den haben der Solist, das Orchester und die Komponistin Unsuk Chin auch verdient – viele Musiker hätten bei dieser Aufgabe sicherlich kapituliert. Was dieses Werk vermitteln möchte, bleibt indes offen.

Für das Werk „Umarmung“ – Licht und Schatten von Toshio Hosokawa steht die Orgel von Christian Schmitt im Mittelpunkt. Im ersten Moment drängt sich der Verdacht auf, er würde den ersten Akkord von Wu Weis Sheng nachahmen. Obwohl das erste Musikstück deutlich reicher instrumentiert war, treten jetzt auch andere Instrumente in den Vordergrund. Flöte, Hörnern, Klavier und Streichern gelingt es, einzelne Anklänge an Melodie zu äußern oder Rhythmen zu etablieren, bis das Donnern der Orgel alles überrumpelt. Dieser Anklang an Horrorfilme aus den 1920er-Jahren steigert sich zu einem monströsen Ausbruch, der einem fast das Blut in den Adern gefrieren lässt. Ein düsterer Unterton unterlegt das Ganze, bis das Werk schließlich verklingt.

Für einen Höhepunkt sorgt Christian Schmitt mit einer Zugabe: Johann Sebastian Bach – der Inbegriff musikalischer Planung und melodisch motivischer Arbeit. Größer könnte der Kontrast zu dem gefühlten Chaos der beiden fernöstlichen Werke nicht sein. Hier zeigt der Organist sein ganzes Können, seine wunderbare Handwerkstechnik. Die Zuhörer erwachen und geben tosenden Beifall.

Zu Beginn des ersten Satzes von Johannes Brahms‘ 4. Sinfonie droht den Musikern nach der Pause die Konzentration zu entgleiten, sie spielen einfach nur vom Notenblatt herunter. Dies ist der Moment des Dirigenten. Es gelingt Jakub Hrůša, sein Orchester einzufangen und mitzureißen. Was folgt ist eine furiose Steigerung bis hin zu einem der genialsten Höhepunkte, den Brahms ersonnen hat. Endlich hat man als Zuhörer den Eindruck, sich fallen lassen zu können und einfach nur noch zu genießen.

Der bewegten Ausarbeitung des Themas im ersten Satz folgt ein ruhiger zweiter Satz, dem die Bamberger Symphoniker einen edlen, feierlichen Anstrich verleihen. Die Streicher zupfen zart, Horn und Holzbläser glänzen. Ihr Thema geht wie von selbst ins Gedächtnis über und möchte den Hörer nicht mehr loslassen.

Den Kontrast dazu bietet der feurige, grandiose dritte Satz, in dem sich das Orchester noch einmal richtig austoben kann. Jakub Hrůša gelingt es, die Musiker zu Höchstleistungen zu treiben und ihnen das Bestmögliche abzuverlangen. Das quittiert das Publikum mit einem Applaus zwischen den Sätzen.

Der vierte Satz taucht in tiefes Moll, das Orchester zelebriert ihn mit einer Portion Dramatik. Die Musiker geben unter ihrem tschechischen Dirigenten noch einmal alles, sie setzen den Zwischenapplaus in beseeltes Spielen um. Die aufwühlende Musik verlangt den Künstlern noch einmal alles ab, und als der Schlussakkord erklingt und viele Zuhörer in Ekstase ausbrechen, sieht man den Musikern an, dass eine enorme Last von ihren Schultern gefallen ist.

Jakub Hrůša bittet noch einmal um Ruhe und spricht einen Dank an das Publikum und sein Orchester aus. Stürmischer Applaus.

Daniel Janz, 1. Mai 2017
für klassik-begeistert.de

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