Grigory Sokolovs Mozart fühlt sich weich wie Kaschmir an, sein Beethoven prickelt auf der Haut

Grigory Sokolov, Mozart, Beethoven,  Salzburger Festspiele, 1. August 2017

Foto © Marco Borelli
Grigory Sokolov, Mozart, Beethoven

Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 1. August 2017

Wolfgang A. Mozart Sonate für Klavier C-Dur KV 545
Wolfgang A. Mozart Fantasie und Sonate für Klavier c-Moll KV 475 / 457
Ludwig van Beethoven Sonate für Klavier Nr. 27 e-Moll op. 90
Ludwig van Beethoven Sonate für Klavier Nr. 32 c-Moll op. 111

von Antonia Tremmel-Scheinost

Wenige Pianisten bescheren dem Hörer solch einträgliche Seelennahrung wie Grigory Sokolov. Alljährlich lässt diese Antipode zu Mittelmaß das Salzburger Festspielpublikum verblüfft wie beseelt zurück. Auch am Dienstagabend sorgte Sokolov, dieser entrückte Mystiker, für Sternstunden des Klavierspiels. Eine Ode an die Langsamkeit.

Grigory Lipmanowitsch Sokolov,1950 in Sankt Petersburg geboren, gewann mit 16 Jahren den Tschaikowsky-Wettbewerb, nachdem er unter anderem von Emil Gilels unterrichtet wurde. Es dauerte etliche Jahre, bis der Westen ihn entdeckte und er die Konzertsäle dieser Welt eroberte. Denn der Ausnahmepianist übt sich vor allem in einem: in medialer Askese. Über 20 Jahre hat er das Tonstudio gescheut, Interviews und Fotos sind ebenso rar gesät. Menschlich in sich gekehrt wie kaum ein anderer, beschränkt er sich auf das Wesentliche, lässt die Musik dafür umso kraftvoller sprechen.

Mit gewohnt ritualisierter Distanz widmete sich Sokolov diesmal ausschließlich Mozart und Beethoven – traditionell kommt bei ihm nur ein Programm pro Spielzeit zum Zuge, um dieses maximal durchdringen zu können. Also ein Abend ganz im Blickwinkel der Sonate.

Wie einst beim großen Sviatoslav Richter (als dessen legitimer Nachfolger Sokolov gelten kann, beide interpretieren in jedem Fall höchst unslawisch) war der Saal nahezu in völliges Dunkel getaucht, nur um den Flügel schimmerte ein schwacher Lichtkranz; frei nach dem Motto: „Licht senden in die Tiefe des menschlichen Herzens
– des Künstlers Beruf.“

In bekannter Manier ließ der Maestro einige Minuten auf sich warten, nur um dann verhuscht wie zügig in das atmosphärische Finster zu eilen. Was diese aus der Zeit gefallene Erscheinung auf die Klaviatur zauberte, ließ alles stillstehen. Es vollzog sich ein einziges Abtauchen, der Raum wurde mit strahlenden Noten geflutet.

Der Eigensinn des Langsamspielers vom Dienst zeigte sich schon anhand des Programms. Recht unorthodox ist es nämlich, als Virtuose eine der meist gespielten Mozart-Sonaten überhaupt ins Konzertrepertoire aufzunehmen. Denn gut und gerne wird die C-Dur Sonate KV 545 als simple Petitesse verschmäht, zu leichtlebig sei sie.

An Sokolovs Spiel war jedoch rein gar nichts vom Gestus „einfacher Musik“ zu erkennen. Sein Mozart fühlte sich weich wie Kaschmir an; war mal Sturm, mal Hauch. Totgespielte Klavierliteratur? Fehlanzeige.

Schon vom ersten Takt an stellte der Maestro seine eminente Ernsthaftigkeit zur Schau. Dank seines gesetzten Tempos kam absolut jeder Note gleich viel Bedeutung zu. Mannigfaltige Facetten in Dynamik und Anschlag waren zu hören, Mozart wurde in die Unendlichkeit gedehnt, ohne dass er je auseinanderfiel.

Vor allem aber zeichnete sich Grigory Sokolovs Brüten durch eine fast schmerzhafte Langsamkeit und maximale Transparenz aus. Virtuos gesetzte Temporückungen, minimale Pedalierung und eine fabelhafte Anschlagskultur sorgten dafür, dass auch so mancher Mozart-Veteran bisher Ungehörtes vernehmen konnte!

Läufe hatten die Farbe von altem Gold, der Spannungsbogen wurde durchwegs perfekt gezogen, ließ nie nach. Sokolovs pianistische Handschrift war frei von jeglicher infantilen Konnotierung oder überbordender Naivität. Den Luftikus suchte man vergeblich. Sogar bei der „Sonata Facile“.

Und dennoch, sein Mozart roch, schmeckte, klang – kurzum: er lebte.

Attacca (das sich durch den ganzen Abend zog) leitete der Meister sogleich in Mozarts Fantasie und Sonate c-Moll KV 475/ KV 457 über. Auch hier erwies er sich als feinfühliger Dramaturg, nichts klang beliebig. Das Meditieren über Mozart setzte sich in einem Guss fort.

Eigenwillige Tempi, Nuancenreichtum, moderate Dynamik: Des Pianisten hochdifferenziertes Spiel bot wirklich alle Raffinessen, die sich ein Connaisseur wünschen kann.

Sokolov schaffte es sowohl im c-Moll-Hauptthema als auch in den beiden Es-Dur Nebenthemen die Essenz Mozarts berückend schön erfahrbar zu machen. Das fein ziselierte Gebilde erschien innig wie kantabel und gleichzeitig extrem kontrastreich. Im Finale hagelte es dann synkopische Akzente gepaart mit tiefer Melancholie.

Artur Schnabels Bonmot „Mozart sei für Kinder zu leicht und für Erwachsene zu schwer“ drängte sich schon fast auf. Und der Gedanke, dass Grigory Sokolov weit über alledem schwebte.

Grigory Lipmanowitsch ist wahrlich ein lyrischer Könner, ein kongenialer Partner Mozarts.

Mit Voranschreiten des Abends wurde die Zuhörerschaft immer weiter in Anspruch genommen. Dieses unerbittliche Ausreizen aller Extreme, sein absoluter Wille zur Gestaltung ohne die geringste Unterbrechung: All das verlangte ein Höchstmaß an Konzentration – auch für das Publikum.

Da Sokolovs unverwechselbarer Personalstil nicht die kleinste Unklarheit aufkommen ließ und sein Spiel eine enorme Sogkraft ausübte, wurde man ständig geradezu zum Zuhören gezwungen.

Auch der zweite Teil des Abends gestaltete sich bar jeder Effekthascherei. Beethovens jeweils zweisätzige Klaviersonaten op. 90 und op. 111 (No. 27 und No. 32) wurden mit klangvoller Wendigkeit gegeben.

Die introvertierte Sonate op. 90 stellt das changierende Übergangswerk vom mittleren zum späten Beethoven dar. Sokolov gestaltete maßvoll wie subtil. Trotz des stets frei fließenden Notenschwalls hatte wie immer alles seine zwingende Logik.

Speziell die zweite Hälfte der Sonate wurde perfekt temperiert und das wundervolle lyrische Seitenthema erblühte. Allerdings ging aufgrund des durchgehenden Attaccas die Sonate No. 27 nahezu unter und sogleich in Beethovens letzte Klaviersonate über, verlor also ein wenig an Nachklang.

Erst op. 111 spielte der Maestro zum ersten Mal wirklich forte, zeigte in aller Deutlichkeit jedes noch so kleine Detail auf. Den ersten Satz spielte Sokolov stellenweise gar mit grimmiger Entschlossenheit.

Sein Beethoven prickelte auf der Haut, die famose Trillertechnik tat ihr übriges.

Mit immenser Spannung und dramatischem Impetus ließ er dieses Meisterwerk von innen heraus leuchten. Es gelang ihm, Beethovens emotionalen Kosmos ungemein vielschichtig, gedankenvoll und fein ausbalanciert zu Tage kommen zu lassen. Die absolut klare Linienführung verstand sich von selbst.

Nach Ende des regulären Programms nahm Sokolov den frenetischen Jubel – Standing Ovations inbegriffen – stoisch entgegen. Zu einem kurzen Nicken konnte er sich vor seinem ausführlichen Zugabenblock (sechs Stück!) gerade noch durchringen.

Wie man es dreht und wendet, dieser Grigory Sokolov ist in seiner unfassbaren gestalterischen Perfektion zweifellos einer der größten Künstler der Gegenwart. Auch dieser finale Part schien aus einer anderen Dimension zu kommen.

Es schlug Mitternacht, dem Klang wurden also ganze drei Stunden der radikalen Insichgekehrtheit gewährt. Dessen Entfaltung in voller Größe und Schönheit gelang nahezu vollends.

Abschließend gab es noch eine knappe Verbeugung, und schon ging der Pianist ab. Damit entließ der rätselhafte Grigory Lipmanowitsch seine taumelnde Zuhörerschaft wieder hinaus in die drückend schwüle Realität Salzburgs. Es roch nach Regen und nur ein Gedanke schwebte über den Köpfen: SO muss sie klingen, die Musik.

Antonia Tremmel-Scheinost, 2. August 2018, für
klassik-begeistert.de
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