Anna Netrebko geht unter die Haut

Il trovatore, G. Verdi,  Staatsoper, Berlin

Il trovatore (Der Troubadour), Giuseppe Verdi
Staatsoper im Schiller Theater, Berlin, Montag, 11. Juli 2016

Sie sind 50 Jahre verheiratet und waren noch nie in Berlin. Die russische Sängerin Anna Jurjewna Netrebko hat es geschafft, dass Annemarie, 69, und Peter Förster, 71 aus Hockenheim bei Heidelberg (Baden-Württemberg) erstmals in die deutsche Hauptstadt gereist sind. Die beiden Ruheständler lieben klassische Musik, sie gibt ihnen Kraft für den Alltag, und sie lieben die Stimme von Anna Netrebko. Die gastierte am Montag als Leonora in Giuseppe Verdis Oper „Il trovatore“ an der Staatsoper im Schiller Theater.

Der Auftritt des Weltstars in der mittleren Oper aus Verdis „populärer Trilogie“ („Rigoletto“, „Der Troubadour“, „La traviata“, 1851 – 1853) geriet zu einem unvergesslichen musikalischen Ausrufezeichen an stimmlicher und darstellerischer Vollkommenheit. Anna Netrebkos Gesang macht glücklich. Sie entspannt. Ihre satte Tiefe und ihre strahlende Höhe sind vom piano bis zum forte gleichermaßen stark; ihr Timbre ist mittlerweile so abgedunkelt, dass es fast wie ein Mezzo klingt, ihre strahlenden Spitzentöne sind ungebrochen. Gleichzeitig überragt sie alle Darsteller mit ihrer Präsenz. Sie kommt auf die Bühne, und die gehört ihr fast allein. Es gleicht einer Explosion, wenn sie ihre Energie zum Glühen bringt.

Das goldene Hochzeitspaar aus Hockenheim ist begeistert von der Sopranistin: „Je älter sie wird, desto schöner singt sie“, sagt Peter Förster. „Ihre Stimme ist reifer und voluminöser geworden. Anna Netrebkos Gesang geht einfach unter die Haut.“ Auch Annemarie Förster ist hin und weg: „Ihr Gesang erweckt in mir die Gefühle einer Frau, einer Mutter und einer Tochter. Für uns ist Stimme das schönste Instrument. Was man aus diesem Geschenk Gottes machen kann, ist beeindruckend.“

Der Tagesspiegel ist bei der Premiere voll des Lobes für die 44 Jahre alte Sängerin. „Netrebko ist ja immer noch und immer wieder den Bohei wert, den man um sie macht. Die Batterie, die diesen Sopran befeuert, erscheint in manchen Momenten eher wie ein Kernreaktor.“ Ihre Stimme werde stets getragen „von einer purpurnen, rotglühenden, vulkanischen Unterströmung.“

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung jubelt: „Diese Sängerin ist den erhöhten Eintrittspreis dreifach wert. Jeder Ansatz, jedes Crescendo, jede Geste, jedes Pianissimo, jeder Triller: Es passt.“

Höhepunkt des Abends im ausverkauften Haus ist Leonoras große Liebesarie im vierten Akt („D’amor sull’ali rosee / Auf der Liebe rosigen Schwingen“). Überwältigend, wie Anna Netrebko Spitzentöne ansteuert und dann ein Diminuendo bis fast zur Lautlosigkeit ausformt – das ist Stimmkunst in vollendeter Form. „Jeder im Saal spürt, dass die berühmteste Sopranistin unserer Tage einen atemberaubenden Auftritt vorbereitet“, schreibt die Berliner Morgenpost. „Netrebkos Stimme ist makellos, zärtlich, die Koloraturen freizügig girrend, aufblühend. Dieses letzte Aufbäumen zwischen Leben und Tod wird zum Triumph, mit Ovationen wird die Netrebko an der Rampe festgehalten.“

„Anna Netrebko singt ganz außergewöhnlich“, sagt der Germanistik- und Anglistik-Student Jakob Schepers, 22, aus Berlin. „Bei ihr kommen Klarheit und Gefühl gleichermaßen zum Ausdruck – sie hat etwas, das andere Sopranistinnen nicht drauf haben. Anna Netrebko kann stärker Emotionen herüberbringen als andere Sängerinnen.“ Aus dem schwedischen Stockholm angereist sind Jan Lindberg, 50, und Ahmet Sezer, 36. „Wir sind extra für Anna gekommen“, sagt Jan Lindberg, „sie hat die außerordentliche Fähigkeit, vom Guten bis zum Teufel ganz unterschiedliche Charaktere zu interpretieren. Sie gibt sich auf der Bühne ganz und gar ihrer Rolle hin.“

Auch die Sängerin Christa Luckow, die mit ihrem Mann Dietger Luckow (beide Jahrgang 1940) aus dem niedersächsischen Bardowick bei Lüneburg angereist ist, vermag nur Positives im Auftritt von Anna Netrebko zu hören und sehen: „Die Größe ihrer Stimme ist wunderbar, das Spektrum ihrer Klangfarben ist grandios: In die Tiefe ist sie ein warmer Mezzo, in der Höhe ist ihre Strahlkraft ungebrochen. Ihre Koloraturen sind hinreißend eingebettet in eine gesamtrunde Stimme. Anna Netrebko beherrscht die Bühne auch mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Schauspielkunst.“

Die anderen Akteure auf der Bühne und im Orchestergraben konnten an die herausragende Leistung der Russin nicht heranreichen. Sehr gut in Form zeigte sich die US-Amerikanerin Dolora Zajick als alte Zigeunerin Azucena. Die 64-Jährige, die viel an der Metropolitan Opera in New York singt, ist eine der führenden Darstellerinnen im dramatischen Verdi-Mezzosopran-Repertoire. Ihr sehr kräftiges Vibrato ist allerdings ein wenig gewöhnungsbedürftig. Die Charakterdarstellerin hat eine Tiefe wie ein Alt; sie nimmt ihre Stimme an den richtigen Stellen zurück und kann ihre Rolle, wenn es nötig ist, hochdramatisch gestalten.

Nicht zu vergessen der Tenor Yusif Eyvazov, 39, der Gatte Anna Netrebkos, als Manrico. Böse Zungen sagen, er bekomme die Rollen an der Seite seiner Frau nur wegen dieser. Er enttäuscht die Kritiker an diesem Abend, denn er ist wirklich ganz gut. Seine Stimmfarbe ist sehr hell, sein Vibrato eng. Ein glänzender Darsteller ist er nicht, aber er trifft jeden Ton haargenau, auch das hohe C am Ende seiner Stretta im dritten Akt („Di quella pira / Lodern zum Himmel seh ich die Flammen“). Das Publikum dankt es ihm mit großem Szenenapplaus, auch wenn der Spitzenton ein wenig dünn herüberkommt. Der Sänger aus Aserbaidschan, der sich auf wenige Rollen des italienischen Repertoires beschränkt, verfügt über ein ausgezeichnetes Stimmmaterial und wird sich noch weiterentwickeln. Kribbelfeeling wie seine Liebste erzeugt er nicht.

Das trifft auch auf den Bariton Simone Piazzola als Graf von Luna zu. Seine Stimme ist noch nicht groß genug, um bei forte-Stellen des Orchesters mithalten zu können. Mitunter hat er kleine Schwierigkeiten in der Höhe und bewegt sich einen viertel bis halben Ton von unten auf die richtige Note zu. Der Staatsopernchor überzeugt durch sein Klangvolumen und durch sein Schauspiel. Es würde ihm aber gut tun, noch haargenau auf Schlag des großen Maestros Daniel Barenboim zu singen.

Dessen Leistung sowie die der Staatskapelle Berlin passen zur Darbietung von Anna Netrebko. „Daniel Barenboim erschafft wunderbare Momente im Leisen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung. „Dann erzählt dieser grandiose Musiker jede Menge über das Personal, deren Motive und Emotionen. Immer leicht ungeduldig, oft an gern übersehenen Nebenstimmen oder Akkordfolgen interessiert, bringt er einen ungewöhnlichen, aber stets faszinierenden Verdi zum Vorschein.“

Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung setzt noch einen drauf: „Daniel Barenboim und die Staatskapelle begleiten so feinfühlig, so aufmerksam, mit so spannungsreich gesetzten Pausen, so weichen Wiedereinsätzen, dass man in diesem Strom manchmal nur besinnungslos mitschwimmen möchte.“

„Il trovatore“ gilt als Paradebeispiel einer wirren, unverständlichen Opernhandlung, die nur durch die Musik geadelt wird. Geboten wird eine Aneinanderreihung hochgepeitschter Emotionen und bizarrer Situationen: Brudermord, Selbstmord, Zigeunerlager, Scheiterhaufen, Wahnsinn, Blutrache. Die Bühne (Inszenierung: Philipp Stölzl) ist an diesem Abend ein zur Hälfte aufgeschnittener Würfel, das Sinnbild der Auswegslosigkeit. Technisch beeindruckende Videoprojektionen aus dem Weltall oder aus dem Unbewußten zeigen die Protagonisten, Stillleben und surrealistische Gemälde. Großartig passen das Licht und die historisierenden Kostüme, Reifröcke, Wämser, Stiefel, Säbel und Fackeln. Und einmal wird es richtig laut an diesem Abend: Leute des Grafen von Luna richten eine Kanone in den Zuschauerraum und zünden sie mit einem lauten Knall an. Wumms!

Andreas Schmidt, 12. Juli 2016
klassik-begeistert.de

2 Gedanken zu „Il trovatore, G. Verdi,
Staatsoper, Berlin“

  1. Anna knows Il Trovatore like the back of her hand. Her acting in the role absolutely dominates the stage with a voice so strong and melodic that it raises the hairs on spectators‘ necks.
    Without doubt she is the best soprano of this era and she is always generous with her colleagues.
    The best ever Trovatore for me was the Met version with Anna and the returning from illness Dimitri Hvorostovski. That was an absolute triumph.
    I prefer the costumes in the Met production too.
    Anna has given so much joy to her growing number of fans and brought opera out of the doldrums.
    She manages to bring out the best in her colleagues and has drawn so much personal praise from luminaries like Domingo and Dimitri.
    She is obviously a very nice unaffected lady and she will go down in history as a fantastic entertainer.

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