Marie-Sophie Pollak singt sich in die Herzen... und grandios scheitern die historischen Hörner

 

Joseph Haydn Die Jahreszeiten / Oratorium für Soli, Chor und Orchester Hob. XXI/3
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Chorgemeinschaft Neubeuern
Marie-Sophie Pollak
Sopran
Julian Prégardien
Tenor
Georg Zeppenfeld
Bass
Kent Nagano
Dirigent
Elbphilharmonie Hamburg, 9. Oktober 2017

von Sebastian Koik

Der Einmarsch des Chores erscheint fast endlos. Am Ende steht er in fünf mächtigen Reihen auf der Bühne, in Trachtenkleidung. Die Chorgemeinschaft Neubeuern gilt als einer der besten Laienchöre Europas und trat bereits auf allen bedeutenden Klassik-Festivals und vielen der großen Bühnen der Welt auf. Die Gemeinschaft sang in Wien im Goldenen Saal des Musikvereins, im Concertgebouw Amsterdam, in Peking, in St. Martin in the Fields in London, in der Carnegie Hall in New York – heute singt sie in ganz großer Besetzung erstmals in der Elbphilharmonie.

Enoch zu Guttenberg, der Gründer und künstlerische Leiter des Ensembles, ist ein Mann mit eigenen Vorstellungen. Für ihn soll der Chor kein gesichtsloser Klangkörper sein, sondern stimmgewaltiger Stellvertreter des Menschen. Er soll die Angst herausschreien, hadern, bitten und Gott preisen.

Und dieser Chor ist tatsächlich ein Chor aus Menschen. Ein Chor einfacher Menschen, die als Menschen singen. Und das machen sie vorzüglich.

In Sachen Präzision und Finesse sind sie den hervorragenden professionellen Chören unterlegen, die das reich beschenkte Hamburger Publikum bisher in der Elbphilharmonie erleben durfte. Als singende Menschengemeinschaft, als glaubhaft religiöser Chor, als unverstellt authentisch und im besten Sinne unschuldig wirkende, singende Menschengruppe ist dies eine extrem überzeugende Besetzung.

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Kent Nagano wirkt anfangs noch etwas konfus, klingt oft zu unspritzig. Das bessert sich bald. Die Instrumentalisten spielen sich auf der Bühne ein, kommen besser in Schwung und musizieren straffer. Das klingt recht gut – bis das Blech erklingt.

„Historisch informierte Aufführungspraxis“ nennt man die Bemühungen, die Musik vergangener Epochen mit authentischem Instrumentarium, historischer Spieltechnik und im Wissen um die künstlerischen Gestaltungsmittel der jeweiligen Zeit wiederzugeben. Das kann man machen, und manche Ensembles spezialisieren sich auf das Musizieren mit historischen Instrumenten.

Definitiv richtig, stimmig und stark ist der Einsatz des Hammerklaviers. Absolut überzeugend gibt Raphael Alpermann mit diesem Instrument den Herzschlag und den Geist der Musik vor.

Was dann beim Einsatz der historischen Blechblasinstrumente passiert, ist dann aber doch sehr verstörend. Bei den Posaunen mit ihren kurzen Einsätzen ist das noch gut erträglich – bei den Hörnern nicht. Die so genannten „Inventionshörner“ ertönen so unglaublich schief, dass anspruchsvollere Hörer öfter zusammenzucken oder sich gar für die Musiker auf der Bühne fremdschämen. Diese historischen Hörner fabrizieren die hässlichsten und falschesten Töne, die die Elbphilharmonie je zu hören bekam.

Dabei sind die Musiker zu bedauern. Sie können nicht wirklich etwas dafür. Das Spiel dieser alten Instrumente unterscheidet sich deutlich von dem der modernen Arbeitsgeräte, da muss man gut geübt sein. Nicht umsonst wird die historische Aufführungspraxis normalerweise von extra darauf spezialisierten Orchestern gelebt. Das kann man, zumindest bei den Blechblasinstrumenten, nicht einfach mal so auf Knopfdruck.

Kent Nagano hätte entweder spezialisierte Blechbläser für diese beiden Aufführungen engagieren oder dann eben doch auf moderne Instrumente zurückgreifen müssen, auch wenn sie nicht dem Klang der Haydn-Zeit entsprechen. DIESE Hörner wären ganz sicher nicht in Haydns Sinne gewesen.

Und dann gibt es noch einen Kritikpunkt an Teilen des Philharmonischen Orchesters Hamburg: Das Orchester gibt zehn Philharmonische Konzerte pro Jahr auf der Bühne der Elbphilharmonie, jeweils in zwei Aufführungen. Ansonsten ist der normale Arbeitsplatz des Orchesters im Graben der Staatsoper Hamburg. Dort sieht man die Musiker nicht. Im schönen Rund des Großen Saals der Elbphilharmonie sieht man sie von jedem Platz aus. Und seltsamerweise verhielten sich an diesem Montagabend einige von ihnen so, als säßen sie weiterhin unbeobachtet im Orchestergraben. Insbesondere einige ältere Herren in der letzten Reihe fielen negativ auf. Wenn sie an ihrem Instrument eine Weile nicht gebraucht wurden, lümmelten sie häufiger gelangweilt und uninspiriert auf ihren Stühlen herum. Das geht nicht!

Sicher: Das sind Berufsmusiker, von denen man nach mehreren Berufsjahren nicht unbedingt zu jeder Zeit vollkommene Leidenschaft verlangen kann. Doch es gibt viele Menschen, die nicht immer Spaß bei der Arbeit haben – und im Kundenkontakt wird trotzdem allgemeine Freundlichkeit und ein Lächeln vorausgesetzt.

Ganz besonders in einem Bereich wie der Musik, des Konzertes, darf man nicht auf solch offene Art einen Eindruck von „Dienst nach Vorschrift“ oder von Langeweile vermitteln. Das haben der Saal, das Publikum und vor allem die Musik nicht verdient! Vielleicht ist es diesen Musikern einfach nicht bewusst – dann muss es ihnen jemand sagen. Kollegen oder der Dirigent wären eigentlich in der Pflicht. Jetzt musste es leider ein Kritiker tun.

Georg Zeppenfeld als Bass klingt meist sehr schön, in tiefen und auch mittleren und höheren Lagen. Doch fehlt es ihm an diesem Abend etwas an Leichtigkeit und Natürlichkeit. Er wirkt etwas zu angestrengt beim Singen. Mit längeren Tönen hat er ebenfalls leichte Probleme. Wahrscheinlich ist er bei diesem Auftritt gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe. Vielleicht hat er sich deshalb die Kräfte auch intelligent eingeteilt. Denn im letzten Teil des Abends ist seine Stimme am festesten, am wärmsten, am dichtesten. Der Bass Zeppenfeld zaubert ein sehr starkes Finale hervor, das Spaß macht und ergreift.

Julian Prégardien singt herrlich klangschön, mit viel Schmelz und auch mal mit berührender Verletzlichkeit. Seine Stimme ist aber etwas eng, auch er hat etwas Probleme mit längeren Tönen. Insgesamt ist das ein sehr guter Auftritt.

Und dann die Sopranistin Marie-Sophie Pollak! Die 29-Jährige sprang sehr kurzfristig für die erkrankte Christina Gansch ein und erobert die Elbphilharmonie im Sturm!!! Mit großer Ausdauer und bewundernswerter Souveränität in allen Lagen singt sie sich in die Herzen des Publikums. Ihre Stimme ist unglaublich klar, glockenhell und auch kraftvoll. Sie wirft gleißende Lichtstrahlen in den Saal. Sie kann auch sehr verletzlich klingen. Sie scheint als Sopranistin alles zu können und ist ganz allein schon das Eintrittsgeld wert. Von dieser jungen Dame wird noch zu hören sein. Hoffentlich noch oft auf den Bühnen Hamburgs! Übrigens: Sie sieht auch noch fantastisch aus!

Sebastian Koik, 11. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de

3 Gedanken zu „Joseph Haydn, Die Jahreszeiten, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Chorgemeinschaft Neubeuern,
Elbphilharmonie, Hamburg“

  1. Historische Blechblasinstrumente stechen wahrhaftig extrem hervor. Den Unterschied erkennt selbst bei perfekter Spielweise auch ein ungeübter Hörer sehr rasch.

    Zum Gebaren der Musiker stimme ich Ihnen zu – das geht nicht!

    Jürgen Pathy

  2. Kommentar zum 1. Philharmonischen Konzert, J. Haydn, Die Jahreszeiten, am 9.10.2017

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    die Karten zu diesem Konzert bekamen wir von unseren Kindern geschenkt. Es war unser erster Besuch in der Elbphilharmonie, der uns sehr glücklich machte.

    Wir hörten auch die Einführung zu dem Werk und die besondere Vorstellung der historischen Blechblasinstrumente. Uns war bewusst, dass eventuell nicht alle Töne so klingen würden, wie es der Spieler gerne hätte, deshalb konnte uns nichts wirklich erschüttern.

    Wir haben eine schöne Erinnerung an den Abend. Aber da Herr Koik in seinem Bericht vom 11.10.17 in klassik-begeistert sehr beredt Schwächen hervorhebt, möchten wir doch auf einen ganz anderen Punkt aufmerksam machen, den man vielleicht ebenso einmal ansprechen könnte.

    Kurz vor Schluss des Konzertes – noch während musiziert wurde – verließen schon erste Zuhörer ihre Plätze. Kaum hatte der Dirigent seinen Taktstock sinken lassen erhoben sich viele, um den Ausgängen zuzustreben.

    Wir finden, das ist ein ungehöriges und unhöfliches Verhalten den Musikern und anderen Besuchern gegenüber und eine Unsitte, die ruhig auch erwähnt werden könnte, wenn man schon von Musikern spricht, „die sich häufig gelangweilt auf ihren Stühlen lümmeln“.

    Herzliche Grüße aus dem Hunsrück!

    Annegret Clara und Horst Horn
    Rötsweiler-Nockenthal

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