Das Ballett Liliom von John Neumeier überzeugt mit einer exzellenten neuen Besetzung

Liliom, Ballett von John Neumeier,  Hamburgische Staatsoper, 25. Februar 2022

Selten habe ich Edvin Revazov tänzerisch und vor allem darstellerisch so überzeugend gesehen. Ida Praetorius war ihm eine gleichrangige, nicht duckmäuserisch, sklavisch ergebene Julie. Man merkte ihr an, wie sie um diesen Mann rang, versuchte ihn zu verstehen und ihm aus Einsicht und immer wieder aus unerschütterter Liebe vergab.

Foto: Edvin Revazov (Liliom) sammelt für Ida Praetorius (Julie) die aus dem Publikum auf die Bühne geworfenen Blumen ein (RW)

Hamburgische Staatsoper, 25. Februar 2022

von Dr. Ralf Wegner

Das Schöne an Neumeiers Ballett-Truppe ist, es gibt keine Zweitbesetzungen; alle Tänzerinnen und Tänzer sind so gut, dass jede und jeder für jede Rolle einspringen könnte. Sie wären nicht besser oder schlechter als ihre Vorgänger, sie wären nur anders, jeweils ihrer Persönlichkeit entsprechend. Es gibt bei Neumeier keine hofierten Stars; selbst in anderen Orten wie London oder Kopenhagen hochberühmte Tänzerinnen wie Alina Cojocaru oder Ida Praetorius gehen hier in dem Ensemble auf und tragen zum Gelingen des choreographischen Werks bei.

Das ist das Besondere an Neumeiers Compagnie, alle ordnen sich dem Werk unter und geben in den jeweiligen Rollen ihr Bestes. Und zwar so, als ob sie jeden Abend ihre Rolle neu entdeckten, sie schlüpfen in die Partie und füllen diese bis zum Bersten mit physischer Stärke und emotionaler Kraft. Ich habe in den fast fünf Hamburger Jahrzehnten mit Neumeiers Werken nie eine nur durch Routine geprägte Aufführung gesehen. Auch heute nicht.

Edvin Revazov war ein exzellenter Liliom, anfangs selbstverliebt, später seine Gefühle für die schüchterne Julie entdeckend, sich vor der Verantwortung, die er für diese Liebe eingehen soll, fürchtend, überzeugte er schließlich mit einem Wechselbad der Gefühle ob seiner Unfähigkeit, seiner kleinen Familie soziale Sicherheit und konstante Liebe zu bieten. Selten habe ich Revazov tänzerisch und vor allem darstellerisch so überzeugend gesehen. Ida Praetorius war ihm eine gleichrangige, nicht duckmäuserisch, sklavisch ergebene Julie. Man merkte ihr an, wie sie um diesen Mann rang, versuchte ihn zu verstehen und ihm aus Einsicht und immer wieder aus unerschütterter Liebe vergab. Der 19jährige italienische Tänzer Francesco Cortese warf sich in die Rolle des Louis mit überbordender physischer Kraft und Intensität, wie man es von einem Ballett-Aspiranten eigentlich nicht hätte erwarten können. Eine überzeugende Leistung, vor allem auch in den Pas de deux mit seinem ihm unbekannten Vater Liliom.

Ida Praetorius und Edvin Revazov; Borja Bermudez, Yaiza Coll und Ida Praetorius (Fotos: Kiran West)

Anders als Anna Laudere zeigte Patricia Friza weniger den erotischen Aspekt der Frau Muskat, sondern, eigentlich rollendeckender, mit ihrem eckig-expressionistischen Bewegungsrepertoire mehr die leidende Seele der sich vor dem Verlassen Werden grämenden Frau, eine sehr nachhaltige Interpretation. Borja Bermudez war mit seiner schlaksig in die Höhe strebenden, fast gotisch-expressiv anmutenden Tanzsprache ein ausgezeichneter Wolf Beifeld.  Er erinnerte stark an Konstantin Tselikov, für den Neumeier diese Rolle ursprünglich choreographiert hatte. Yaiza Coll erwies sich als ausdrucksstarke Marie, sie harmonierte perfekt mit Bermudez. Marc Jubete hatte es dagegen schwer, den von Aleix Martinez vorgegebenen schleimig-schmierigen Gangstercharakter Ficsur vergessen zu lassen. Vielleicht ist das auch richtig so, denn Ficsur ist nur eine Nebenfigur, die nicht von Liliom ablenken sollte. Lizhong Wang fiel als betrunkener Matrose mit einem besonders gut gelungenen Drehsprung auf. Wieder war das gesamte Ensemble herausragend, ebenso die musikalische Darbietung durch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und die NDR Bigband unter der Leitung von Nathan Brock.

Es fiel noch etwas auf, der Altersdurchschnitt der Zuschauer lag heute um mindestens 20 Jahre unter dem der üblichen Opernbesucher. Ist das ein gutes Zeichen? Für die Oper sicher nicht, für Neumeier und hier wohl insbesondere auch für die musikalische Seite mit modernen Rhythmen, aber auch melodiösen Tonfolgen (Michel Legrand) wohl schon. Am Ende gab es großen Jubel und Stehende Ovationen für das Ensemble, und wieder flogen zahlreiche Blumensträuße: Für Francesco Cortese, Patricia Friza, Ida Praetorius und Edvin Revazov.

Dr. Ralf Wegner, 25. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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