Tiroler Festspiele Erl boten keinen überzeugenden "Ring des Nibelungen"

Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen,  Tiroler Festspiele Erl Sommer 2017

Foto © Festspiele Erl
Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen
Tiroler Festspiele Erl Sommer 2017

Schon lange gilt die 1.500 Seelen-Gemeinde Erl im Kufsteinerland, ganz nah an der österreichisch-deutschen Grenze, nicht mehr als Geheimtipp unter Musikliebhabern. Die Tiroler Festspiele Erl, auch bekannt als die „Festspiele auf der grünen Wiese“, vereinen seit 20 Jahren Opernglamour und Bergpanorama, internationales Flair und dörfliche Idylle.

Von 6. bis 30. Juli 2017 erklingen unter der Leitung von Gustav Kuhn täglich Opern, Konzerte und Kammermusik. Höhepunkt ist Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ – und zwar genauso wie ursprünglich von Wagner konzipiert, aber selten umgesetzt: an vier aufeinander folgenden Tagen. Ebenfalls auf dem Spielplan 2017 steht erstmals Gioachino Rossinis letzte Opera „Semiramide“: Das weitestgehend unbekannte Werk mit spektakulären Solonummern und Ensembles wurde im 19. Jahrhundert so oft gespielt wie kein anderes Stück des Komponisten.

Wolfgang Amadeus Mozarts „Die Zauberflöte“ und Wagners „Lohengrin“ komplettieren das Angebot an Opern in diesem Jahr. Zudem sind Orchester wie die Sophia Symphonics mit Dirigentin Ljubka Biagioni oder das Haydn Orchester unter der Leitung von Arvo Volmer zu Gast in Erl. Mélodie Zhao widmet einen Abend ganz dem Klavier; weitere Vorstellungen zeigen Julia Malischnig mit ihrer „Noche de Guitarra“ und Bartolomey Bittmann mit einer Ode an Marlene Dietrich.

1998 erfüllte Maestro Gustav Kuhn sich in Erl seinen Traum vom eigenen Musikfestival: Anfangs nutzte er dafür das Erler Passionsspielhaus. Seit Dezember 2012 hebt sich nun auch der Vorhang in dem für 36 Millionen erbauten, neuen futuristischen Festspielhaus. Von den Einheimischen als ihr „Wunder von Erl“ bezeichnet, schmiegt sich der Bau in die Landschaft wie eine Felsspalte. Seither flanieren die Gäste in ihren Roben im Sommer wie im Winter vorbei an idyllischen Weiden oder Schneefeldern zum Kunstgenuss.

Der Tagesspiegel schrieb: „36 Millionen Euro hat das alles gekostet, den größten Teil bezahlte Hans Peter Haselsteiner (Anmerkung: ehemaliger Chef des österreichischen Baukonzerns STRABAG, nicht nur mit Kunstsinn gesegnet, sondern auch einer der reichsten Männer Österreichs, auch Präsident der Tiroler Festspiele). Es ist das zweite Festspielhaus, das ein Mäzen einem Künstler erbaute. Das erste steht in Bayreuth. König Ludwig II. schenkte es 1876 Richard Wagner.

Ähnlich freilich sind sich die beiden Häuser in nichts, ja sie sind das glatte Gegenteil voneinander. Denn Erl will beweisen, dass es auch anders geht als in Bayreuth. Zunächst zeigt sich das am Geld. Der Jahresetat der Bayreuther Festspiele liegt derzeit bei 17 Millionen Euro, der Etat der Sommerfestspiele von Erl, die beiden sind von der Dauer her vergleichbar, bei luftigen 2,8 Millionen. Die öffentliche Hand unterstützt das mit etwa einer Million Euro. In Bayreuth tut sie das mit etwa sechs Millionen. Ein Unterschied, wie er größer kaum sein kann. Reiche Oper, arme Oper.“

Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner vom 13. bis 16. Juli 2017

An vier aufeinanderfolgenden Tagen verfolgten 1500 Besucher im Passionsspielhaus das wunderbare opus magnum des Jahrtausendkomponisten Richard Wagner. Das Orchester mit überwiegend sehr jungen Musikern aus vielen Ländern spielt – in die Höhe gestaffelt – hinter einem durchsichtigen Vorhang. Die Akustik im Passionsspielhaus ist gut, aber nicht, wie oft beschrieben, hervorragend. So erklingen die Kontrabässe und Celli oft recht verschwommen und werden überlagert von den höher sitzenden Holzbläsern, die sehr dominant erklingen.

Jeder Klassik-Freund sollte mindestens einmal in seinem Leben den „Ring des Nibelungen“ gehört haben: Die Musik ist hinreißend, hochromantisch und aufwühlend. Die Geschichte über Macht und Liebe hochaktuell. Vor der Länge der 2,5 („Das Rheingold“, ohne Pause) bis 4 ¼ Stunden („Die Götterdämmerung“) langen Einzelteile braucht man keine Angst zu haben: An allen Abenden, außer dem „Rheingold“-Abend, gibt es zwei Pausen, die in Erl etwa je eine halbe Stunde dauern und draußen oder drinnen bei einem Getränk oder Snack angenehm verbracht werden können. Draußen erbaut der Blick auf die Berge, die das Inn-Tal säumen.

Die Inszenierung in Erl ist sehr einfach – keine aufgemotzten Video-Projektionen mit Tankstellen und Berliner Döner-Buden wie derzeit beim „Ring“ in Bayreuth, sondern eine ganz schlichte Umsetzung auf schmaler Bühne mit einfachen Mitteln.

„So spartanisch wie die Gagen seiner Musiker und Sänger, sind auch Gustav Kuhns Inszenierungen“, schreibt Der Tagesspiegel. „Bühnenbilder von größter Schlichtheit, von allernötigsten Andeutungen. Keine verblüffenden Einfälle, nicht einmal der Versuch einer Interpretation. Regietheater ist in Erl so fern wie Bayreuth. Und das ist nicht nur dem knappen Budget des Tiroler Modells geschuldet. Es ist Gustav Kuhns tiefste Überzeugung, dass sich die Regie ganz und gar aus der Musik zu entwickeln und sich dieser im Zweifelsfall stets unterzuordnen habe. So wird seine Regiearbeit zur Illustration, schafft minimalistische Bilder, setzt Personen zueinander in Beziehung, aber nicht mehr. Das ist alles, das ist manchmal zu wenig. Aber es ist niemals klein, weil die Größe aus der Musik kommt.“

Von entscheidender Bedeutung sind beim „Ring des Nibelungen“ natürlich die Einzelstimmen. Und da waren in diesem Jahr in Erl viel Mittelmaß, aber auch gute, einige sehr gute bis hervorragende und leider auch einige schlechte Gesangsleistungen zu hören. Unterm Strich waren „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ mittelmäßig bis knapp gut, „Siegfried“ sehr gut und das Finale, „Die Götterdämmerung“, schlecht.

„’Als Wagner-Orchester sind sie großartig’, sagt Gustav Kuhn, und weil er zur Bescheidenheit nicht neigt, setzt er hinzu: ‚Es ist wahrscheinlich das beste Wagner-Orchester der Welt.’“ So stand es im Tagesspiegel. Diese Selbsteinschätzung Kuhns erwies sich während der vier Wagner-Tage im Juli 2017 als übertrieben: Auch das Orchester der Tiroler Festspiele Erl passte sich leider den Gesangsleistungen an. Es ist bei weitem nicht das „beste Wagner-Orchester der Welt“. Verglichen mit den Klangkörpern in Bayreuth, Wien, München, Dresden und Berlin wirkte die Orchesterdarbietung oft ein wenig hemdsärmelig und wenig packend. An allen Tagen waren aus allen Orchesterteilen allerhand Fehler zu hören. Das geht wirklich besser.

„Das Rheingold“: Der Tenor Johannes Chum gab als Loge eine stimmlich und darstellerisch sehr gute Darbietung. Auch der Bariton Thomas Gazheli überzeugte als Alberich. Für die schönsten – viel zu kurzen – Momente sorgte die Mezzosopranistin Alena Sautier als Erda – phantastisch, eine sehr wohlige Stimme mit ganz tollem Timbre, die für Gänsehautmomente sorgte. Die scheppernde, dröhnende Stimme des italienischen Basses Andrea Silvestrelli als Riese Fafner war hingegen sehr gewöhnungsbedürftig – als Hagen in der „Götterdämmerung“ war der Italiener noch schlechter in Form, was überrascht, denn er ist sonst auch an großen Häusern wie in Chicago, Houston und San Francisco zu hören. Unakzeptabel war die Leistung des Baritons James Roser als Wotan. Sehr dünn in der Stimme, das Timbre alles andere als göttlich – wenn das Orchester aus dem Graben heraus vor ihm gespielt hätte, wäre er kaum zu hören gewesen.

Kurz notiert: Das Ambosshämmern im Saal ist eine gute Idee – leider erklang es nicht synchron zum Rhythmus des Orchesters. Auch eine Mutter im Tiroler Trachtenkleid mit ihren Kindern im Alter von fünf und sieben Jahren saß am ersten Aufführungstag in der zweiten Reihe unter den 1500 Gästen. Der Fünfjährige musste nach 50 Minuten auf die Toilette – Mutter und Kinder wurden 15 Minuten später wieder in den Saal gelassen und hielten bis zum Ende (insgesamt 2,5 Stunden ohne Pause) durch.

„Die Walküre“: Die alles überstrahlende Stimme an diesem Abend war die der Sopranistin Marianna Szivkova als Sieglinde. Sie singt seit 2014 die Sieglinde in Erl, seit 2015 auch die 3. Norn in der „Götterdämmerung“. Das war eine sehr, sehr gute Leistung, Frau Szivkova. Sie können auch auf größeren Bühnen singen! Ihre Stimme zieht die Zuhörer in den Bann. In der Höhe strahlend und auch im tieferen Register angenehm war die junge Sopranistin die Lichtgestalt des Abends – sie hat an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz studiert.

Das Orchester zeigte schon mit dem berühmten Vorspiel zum ersten Aufzug, dass es renommierten Orchestern noch nicht das Wasser reichen kann. Dieses kurze, energische Orchestervorspiel soll den Zuhörer mitten ins Geschehen ziehen – dieses Gefühl kam nicht auf. Das Vorspiel schildert eine Hatz der Neidinge auf Siegmund. Die hektisch erregte Musik und das Gewitterzauber-Motiv – im ,,Rheingold“ erklang es zu den Worten Donners ,,He da, he da, he do“ – schildern die Umstände der Flucht.

Kurz notiert: Nach einem falschen Ton des blassen Tenors Andrew Sritheran als Siegmund kam es zu einem längeren Stimmen-Aussetzer. Dirigent Gustav Kuhn übernahm für ein paar Takte, um die Sänger wieder auf die Spur zu bringen.

„Siegfried“: Am dritten Abend stimmte alles. Das junge Orchester zeigte, dass es Wagner verstanden hat. Dieser „zweite Tag des Bühnenfestspiels“ war der weitaus stärkste im Passionsspielhaus. Den Musikern unterliefen fast keine Fehler. Überstrahlt wurde „Siegfried“ von dem phantastischen Sopran der Nancy Weißbach als Brünnhilde. Sie singt diese Rolle seit 2014 und ist als „Walküren“-Brünnhilde im September 2017 im Oldenburgischen Staatstheater zu hören. Ihre Stimme hat enorm viel Potenzial – und bekam viele Brava-Rufe von den Zuschauern. Nancy Weißbachs Stimme ist Energie pur, in der Höhe strahlend, souverän und auch im tieferen Register mit schönem Timbre. Frau Weißbach, Sie sorgen für Gänsehautmomente! Der Tenor Gianluca Zampieri überzeugte als Siegfried in allen drei Aufzügen mit großer Strahlkraft in der Höhe. Siegfrieds Ziehvater Mime, der Tenor Wolfram Wittekind, konnte ihm Paroli bieten. Auch die Altistin Rena Kleifeld als Erda brillierte mit einer sehr schönen, vollen und sehr angenehmen Tiefe.

„Die Götterdämmerung“: Nach dem tollen „Siegfried“ vom Vortag erfuhr der Erler „Ring“ 2017 mit der „Götterdämmerung“ keinen schönen Abschlussabend. Alle Zuschauer, mit denen klassik-begeistert.de an diesem Abend sprach, waren von der Aufführung nicht angetan. Die Schweizer Sopranistin Mona Somm sang als Brünnhilde mit viel zu viel Druck in der Stimme. Oft schrill in der Höhe und ohne überzeugende Tiefe – das war wirklich keine gute Brünnhilde. Schade, dass nicht die „Siegfried“-Brünnhilde Nancy Weißbach diesen Abend bestritten hat. Auch der Tenor George Vincent Humphrey blieb als Siegfried um Längen hinter Gianluca Zampieri, dem Siegfried des Vorabends, zurück. Er bot mit seiner matten Stimme, die jegliche Strahlkraft in der Höhe vermissen ließ, keine gute Vorstellung. Pech hatte er noch im Sitzen, als ein Stuhl zusammenbrach. Andrea Silvestrelli als Hagen bot mit seinem sehr durchschlagskräftigen, dröhnenden Bass keine gute Leistung und hatte immer wieder Probleme mit der Aussprache. Positiv fiel derweil Michael Kupfer-Radecky als Gunther, der Wotan in der „Walküre“, mit seinem angenehmen Bariton auf. Und die Chorakademie der Tiroler Festspiele Erl sang großartig.

Fazit: Erl in Tirol ist eine Reise wert. Die Natur ist atemberaubend schön. Die 1500-Seelen-Gemeinde hat ein hervorragendes Gasthaus: das Gasthaus und Hotel Dresch der Familie Anker, in dem man phantastisch und zu fairen Preisen nach den langen Ring-Abenden speisen kann. Aber das Motto der Tiroler Festspiele Erl – „Wilder Kaiser statt Grüner Hügel“ – ist ein wenig übertrieben – zumindest bei diesem „Ring des Nibelungen“ 2017: Wer richtig guten Wagner hören möchte, ist in Bayreuth, Wien, München, Berlin und Dresden besser aufgehoben als in Erl.

Andreas Schmidt, 18. Juli 2017,
klassik-begeistert.de
klassik-begeistert.at

 

 

2 Gedanken zu „Richard Wagner, Der Ring des Nibelungen,
Tiroler Festspiele Erl Sommer 2017“

  1. „Jeder Klassik-Freund sollte mindestens einmal in seinem Leben den ‚Ring des Nibelungen‘ gehört haben.“

    Dann wird es wohl Zeit! Obwohl Wagner nun wirklich nichts ist für Neulinge der Klassik-Szene. Um ehrlich zu sein wage ich mich nach nun ca. 4 Jahren zum ersten mal an Wagners Opern ran. Genau gesagt an den „Ring“. Ohne Basishintergrundwissen bestimmt nicht empfehlenswert. Gut weitergeholfen hat mir eine 4-teilige Serie zu je 90 Minuten. Der Pianist Stefan Mikisch führt sehr enthusiastisch durch alle vier „Ring“-Opern. Zusammen mit dem Dirigenten Christian Thielemann und weiteren Personen. Prädikat EMPFEHLENSWERT! Vor allem für Anfänger (siehe youtube-link).
    Jürgen Pathy

    Teil 1 "Rheingold" https://www.youtube.com/watch?v=S0yBURu6WdM
    Alle Teile: https://www.youtube.com/watch?v=S0yBURu6WdM&list=PLDUGgd-2M4RyeELv3k6wv1e56mHVX6cV8

    1. Warum ist Wagner so „gefährlich“ für die Stimme? Liegt es daran dass ständig im oberen Frequenzbereich gesungen werden muss? Ohne viel Schonung. Ohne dazwischen die Stimme regelmäßig mit tieferen Tönen entspannen zu können? War sich Richard Wagner dessen bewusst?
      Jürgen Pathy

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