"Götterdämmerung": Regie-Sensation am Staatstheater Karlsruhe

Richard Wagner, Götterdämmerung,  Staatstheater Karlsruhe

Foto © Matthias Baus
Richard Wagner, Götterdämmerung
Staatstheater Karlsruhe, 5. November 2017

Brünnhilde, Heidi Melton
1. Norn/Waltraute/Flosshilde, Katharine Tier
2. Norn/Wellgunde, Dilara Baştar
3. Norn, An de Ridder
Woglinde, Agnieszka Tomaszewska
Gutrune, Christina Niessen
Siegfried, Daniel Frank
Hagen, Kammersänger Konstantin Gorny
Gunther, Kammersänger Armin Kolarczyk
Alberich, Jaco Venter
Musikalische Leitung, GMD Justin Brown
Regie, Tobias Kratzer
Bühne & Kostüme, Rainer Sellmaier
Licht, Stefan Woinke
Chorleitung, Ulrich Wagner
Dramaturgie, Bettina Bartz, Boris Kehrmann

Von Sebastian Koik

Diese Götterdämmerung ist ein Coup! Dem Badischen Staatstheater Karlsruhe und dem jungen Regisseur Tobias Kratzer gelingt ein ganz, ganz großer Wurf, eine Regie-Sensation! Selten war die Oper ein Ort derart großer Kreativität und Lebendigkeit.

Für ein kleineres Haus wie das in Karlsruhe ist eine solche ideenreiche und gewagte Inszenierung ein Geniestreich. Karlsruhe kann keine Weltstars wie Nina Stemme, Andreas Schager oder Christian Thielemann engagieren, erregt aktuell aber dennoch bei Richard-Wagner-Freunden in ganz Deutschland sehr große Aufmerksamkeit. Und so redet die Szene neben der Dresdner Götterdämmerung mit Traumbesetzung gegenwärtig wohl am meisten über diese Karlsruher Inszenierung – und das zu Recht.

Man muss nicht alles gut finden. Und man kann wohl auch kaum alles gut finden. Doch eines ist sicher: Diese Inszenierung von Tobias Kratzer bietet eine Menge Gesprächsstoff und regt zum Nachdenken an! Nicht nur über das Stück an sich, sondern auch zum grundsätzlichen Sinnieren über Welt und Wirklichkeit, Gesellschaft, Kunst, Oper und Spiel lädt diese Götterdämmerung ein.

Und die lustigste Wagner-Inszenierung aller Zeiten ist dies vermutlich auch noch. Es gibt viele komödiantische Elemente und Szenen. Das lockert das Stück auf, ohne die Tragödie und Ernsthaftigkeit der Themen zu beschädigen.

Es beginnt schon sehr schräg in der Nornen-Szene: Frauen sind als Männer verkleidet, die in Frauenstimmen singen. Die drei jungen Männer sind Regisseure, sie stehen für die drei Regisseure der vorherigen drei Teile des Ringes. Gleichzeitig sind sie die Nornen, und später die Rheintöchter und Brünnhildes Schwester Waltraute.

Die drei Nornen / Regisseure betrachten vor einem roten Samtvorhang mit dem großen Schriftzug „The End“ ratlos das Ende der Partitur. Sie finden keine Lösung.

Doch dann bewegt sich der Vorhang. Siegfried kommt heraus. Die drei Regisseure packen ihre Sachen und verlassen die Bühne. Groß und mit wundervollem Blech-Sound ertönt das Orchester, bläst zu einem neuen Beginn.

Brünnhilde tritt auf, der Vorhang wird aufgezogen. Sie singt herrlich schön und bis zur Gänsehaut berührend „O heilige Götter!“. Wow! Was für ein Beginn dieser „Götterdämmerung“!

Als Siegfried dank Tarnhelm als vermeintlicher Gunther Brünnhilde erobert, scheint die Regie für einen Moment genial, bis sie im nächsten Moment daneben liegt und den größten Fehler dieser Inszenierung begeht.

Zunächst das Gelungene: Der Walkürenfelsen ist in diesem Stück ein Schlafzimmer mit großem Himmelbett, Liebesnest von Brünnhilde und Siegfried, bevor dieser zu neuen Abenteuern in die Welt hinauszog.

Das ist stimmig und überzeugt. Als Siegfried in Gunthers Gestalt Brünnhilde auf dem großen Bett den Ring entreißt, entreißt er ihr gleichzeitig sehr viel mehr, vielleicht gar alles. Durch die Wahl des Schauplatzes raubt er ihr auch ihre Würde, ihren Stolz, ihr Selbstverständnis als starke Frau und Göttertochter.

Dieses Entreißen des Ringes auf dem Bett wirkt wie eine Vergewaltigung. Das scheint stark umgesetzt – eine große Wirkung auf mehreren Ebenen mit geringen Mitteln.

Doch dann geht die Phantasie einmal zu sehr mit dem Regisseur durch: Gunther geht zu ihr ins Bett und verlässt es erfolglos. Siegfried hat sich schon in Stellung gebracht und stürzt sich erregt auf Brünnhilde.

Wo ist da das Schwert, das laut Originaltext in der Brautnacht zwischen Siegfried und Brünnhilde liegt, der „Nord“ zwischen „Ost“ und „West“? Manche Zuschauer werden Teile unmittelbar vor dieser Szene sehr geschmacklos finden, doch das hier ist einfach falsch.

Die Frage nach der Treue Siegfrieds gegenüber Gunther und seinem Schwur auf die Geschehnisse in „Gunthers“ Brautnacht, das Spiel mit dem korrekten Schwur Brünnhildes und Siegfrieds auf unterschiedliche Zeitbezüge und vieles an dem Witz der Geschichte gehen damit verloren. Das ist sehr schade und das Einzige, was man dem Regisseur unabhängig von persönlichem Geschmack vorwerfen muss.

Auch sonst gehen nicht alle Ideen des Regisseurs Tobias Kratzer auf. Manches empfinden die meisten Zuschauer vermutlich auch als total daneben. Unter anderem die Erfindung eines Luschi-Siegfrieds, der überhaupt nichts Heldisches hat. Im Unterhemd, mit hängenden Schultern und fettigen Haaren will man Siegfried nicht noch einmal sehen.

Doch das Positive überwiegt das Negative bei weitem. Der Mut und die Frische begeistern. Und es gibt extrem viel Material zum Nachdenken, Diskutieren und Streiten.

Der zweite Akt wird sehr körperlich, roh, brutal und lebendig. Alberich kriecht über den Boden zum schlafenden Hagen. Elender kann man kaum kriechen oder sich fortbewegen. Das ist stark. Als er aufsteht, sieht man seinen blutigen Schritt. Er gibt Hagen ein Messer. All das ist nichts für sensible Gemüter.

Hagen entmannt sich ebenfalls, das erinnert an Klingsor aus Parsifal, eine äußerliche Darstellung des Liebesverzichts, den der Ring und seine Macht bedeuten.

Doch es war nur ein Traum. Als Hagen erwacht, ist seine Unterwäsche frei von Blut. Übrigens: Es steht ein schwarzes Pferd auf der dunklen Bühne – ein echtes. An weiterem Spektakel bietet der zweite Akt einen echten Pickup-Truck. Brünnhilde wird wie Vieh von einem Lasso gefesselt.

Der Schwur Brünnhildes erfolgt nicht auf eine Speerspitze, sondern auf eine Videokamera.

Die drei knabenhaften Regisseure verstecken sich auf der Ladefläche des Pickups und beobachten das Geschehen. Hier wirken sie wie drei Teenager, die Detektiv spielen und einen Fall lösen wollen wie die jugendlichen Ermittler „Die drei ???“ des amerikanischen Jugendbuch-Autors Robert Arthur oder die jugendlichen Kriminalfall-Löser „TKKG“ – allerdings ohne Gaby.

Zu Beginn des dritten Aktes wird das Publikum angestrahlt und spiegelt sich herrlich in der Spiegelwand auf der Bühne. Das ist viel eleganter und ästhetisch ansprechender als die vielen Stühle, die in der aktuellen Dresdner Götterdämmerung von Willy Decker Publikumsspiegelung ausdrücken sollen. Überhaupt überzeugt das Bühnenbild durchweg durch eleganten Minimalismus und präzise, wirkungsvolle Gesten und macht Spaß.

Es gibt in dieser Inszenierung so viel zu erleben, was es so noch nicht zu sehen gab: Dann sind die drei Regisseure die Rheintöchter. Sie sitzen auf ihren Regiestühlen, tragen ihre Jungmänner-Regisseurskleidung, trinken wie Jugendliche diverse alkoholische Getränke … und singen eben die Rheintöchter. Dann ziehen sie doch mal blau-weiße Langhaar-Perücken über und schlüpfen in Meerjungfrauen-Flossen – um die Kostüme dann aber schnell wieder abzulegen. Es wird hier nur kurz etwas zitiert, und dann ist das erledigt.

Es gibt einige Szenen, die für Wagner-Freunde neu sind: Hagen sticht auf Gutrune ein. Diese ersticht daraufhin Hagen, bevor sie stirbt. Die korrupte Gesellschaft der Gibichungen, die letztendlich nur ein Bild unserer Gesellschaft ist, löscht sich selbst aus. Sie benötigt keinen äußeren Weltuntergang durch Feuer, Fluten oder Götter und Halbgötter.

Und dann wird es so richtig überraschend, ganz neu und wunderbar zauberhaft: Brünnhilde verbrennt die Partitur der Regisseure, setzt sich selbst auf den Regiestuhl und ist die erste, die die Macht des Ringes nutzt.

Sie spult die Zeit zurück!

Es wirkt magisch, wie sich die Figuren und Szenen plötzlich rückwärts auf der Bühne bewegen und abspielen. Zuerst werden Gutrune, Hagen und Gunther wieder lebendig. Dann Siegfried. Brünnhilde spult weit zurück, bis in die Zeit vor der Begegnung Siegfrieds mit der falschen und zerstörerischen Welt der Gibichungen.

Am Ende des langen Rewinds befinden wir uns wieder im idyllischen Schlafgemach von Brünnhilde und Siegfried aus dem Beginn des Bühnenfestspiels. Siegfried und das Ross Grane kommen rückwärts wieder ins friedliche Heim. Sie befinden sich wieder in der Szene, bevor Siegfried zu seinem letzten und verheerenden Abenteuer in die Gibichungen- oder Menschenwelt aufbricht.

Brünnhilde legt den Ring ab. Alles auf Anfang. Alles neu.

Dieses Ende begeistert und hat eine große kathartische Wirkung. Man fühlt sich wie in einem Märchen. Alles ist möglich. Das ist Opernmagie!

Tobias Kratzer wird bei den Bayreuther Festspielen 2019 einen neuen Tannhäuser inszenieren – Langeweile ist ausgeschlossen.

Die US-amerikanische Sopranistin Heidi Melton beschenkt als Brünnhilde das Publikum gleich zu Beginn mit wundervollen Gänsehaut-Momenten. Sie verfügt über eine kräftige Stimme mit langem Atem. In den Höhen ist sie oft etwas schrill. Lange Töne wackeln bei ihr ein wenig.

Der Tenor Daniel Frank gefällt sehr als Siegfried, mit einem ganz starken Auftritt in der Jagdszene, die ihm am Ende den Tod bringen soll. Seine Stimme ist dicht, herrlich dramatisch und lyrisch zugleich. Sie strahlt prächtig und schön. Er überzeugt mit langem Atem und Präzision, hält auch wunderbar die langen Töne. Leider zwingt ihn die Regie darstellerisch in die Rolle des wahrscheinlich unheldischsten Siegfrieds aller Zeiten. Gesanglich ist er neben dem phantastischen Chor und An de Ridder als dritter Norn das Highlight des Abends.

Der in Russland geborene Bass Konstantin Gorny präsentiert sich als stimmlich sehr starker Hagen, tief, sonor, wunderbar weich und warm im Klang, dicht, schön und kräftig, herrlich dramatisch und mit viel Luft. Gegen Ende lässt er nach, seine Stimme verliert an Kraft, seine vormals wunderbaren Tiefen klingen unnatürlicher und angestrengter … und auch er beginnt im Verlauf des Abends bei langen Tönen unschön zu wackeln.

Der Bariton Armin Kolarczyk als Gunther zeigt sich zu Beginn mit einer großen Stimme. Doch auch seine Sangeskraft lässt im Verlauf der mehr als vier Stunden langen „Götterdämmerung“ nach. Er wird gesanglich nach einer Weile etwas blass und kann lange Töne nicht mehr halten.

Der südafrikanische Bariton Jaco Venter ist wunderbar in der Bühnen-Darstellung des Alberich, agiert körperlich und atmosphärisch mit großer Präsenz. Im Gesang ist er aber etwas schwach und dünn und wackelt an diesem dritten Tag des Bühnenfestspiels selbst bei mittellangen Tönen.

Die Sopranistin An de Ridder gefällt stimmlich sehr als 3. Norn. Sie singt zu jeder Zeit souverän und klangschön.

Solide präsentieren sich Katharine Tier als 1. Norn, Waltraute und Floßhilde, Christina Niessen als Gutrune, Dilara Baştar als 2. Norn und Wellgunde und Agnieszka Tomaszewska als Woglinde. Sie alle machen ihre Sache gut, ohne größere Auffälligkeiten nach oben oder unten.

Die Badische Staatskapelle Karlsruhe zeigt sich in dieser Aufführung die meiste Zeit gut, aber nicht immer ganz präzise. Oft wünschte man sich ein wenig mehr Mut, etwas mehr Schärfe und Lautstärke. Es wirkt ein klein wenig zu schüchtern und reserviert und vermag deshalb oft auch nicht ganz so sehr zu bezaubern, zu verführen und zu überwältigen wie es die Komposition Richard Wagners hergibt und eigentlich auch verlangt.

Auch im Aufbau von Spannung und Dramatik wünschte man sich etwas mehr von dem Orchester unter dem britischen Dirigenten Justin Brown, vor allem lange Zeit im dritten Akt, wo die MusikerInnen das Publikum nicht so ganz fesseln können und sogar ein wenig musikalische Langeweile aufkommt.

Aber dann! Ganz zum Schluss, als Brünnhilde die Geschehnisse zurückspult und einer nach dem anderen wieder lebendig wird, schwingt sich das Orchester unter Brown zu ungeahnter Höchstleistung auf. Der Karlsruher Klangkörper spielt jetzt ganz groß auf, rauschhaft und in wundervollster Schönheit. Hier legen die MusikerInnen ihre Schüchternheit und jede Reserviertheit ab. Sie werfen sich in die Musik, dass es eine wahre Freude ist.

Die Streicher präsentieren sich jetzt unfassbar stark, glänzen mit vollendeter Schönheit. Wenn man es nicht wüsste, könnte diese Musik jetzt auch von einem der besten Orchester der Welt aus Wien, Dresden, Chicago oder Amsterdam kommen. Das ist ganz groß. Gänsehaut.

Sehr stark ist der Männerchor! Er bezaubert mit enormer Präzision und Schärfe, langem Atem und Klangschönheit. Er ist mächtig, laut und beeindruckend und bei aller imposanten Massivität herrlich spritzig und agil. Wow! Dieser wunderbare Chor löst in einigen Momenten wohlige Schauer aus und ist ein musikalisches Highlight des Abends!

Der Grund, weshalb jeder Wagner- und Opernfreund diese Karlsruher Götterdämmerung erleben sollte, ist die beeindruckende Inszenierung von Tobias Kratzer. Sie strahlt weit über Karlsruhe hinaus in die Wagner-Welt.

Sebastian Koik, 6. November 2017, für
klassik-begeistert.de

2 Gedanken zu „Richard Wagner, Götterdämmerung,
Staatstheater Karlsruhe“

  1. Spannend zu lesende Besprechung von Sebastian Koik zur Inszenierung. Bitte nicht als wohlfeile Kritikerschelte mißverstehen, denn ich schätze die Kritiken von Herrn Koik sehr und weiß selbst um die Klippen des Handwerks.
    Die Brautnacht des getarnten Siegfried mit Brünnhilde kann meines Erachtens so interpretiert werden, denn wofür steht das Schwert, und verbindet Nord nicht auch West und Ost? Die Musik spricht da deutliche Worte. Siegfried vergißt durch den Trank, vielleicht auch die Vergewaltigung? Was ist da sein Schwur wert?
    Der sexuelle Missbrauch von Frauen und Abhängigen wird als langes Tabu der Gesellschaft endlich öffentlich diskutiert (in Männerrunden wird darüber täglich geradezu mit Siegerpose stolz und hämisch angegeben), und da ist es legitim, dass ihn die Opernregisseure vom „Fliegenden Holländer“ in Lübeck über die „Salome“ in Leipzig bis zu dieser „Götterdämmerung“ auch zeigen und problematisieren. Wagners Position zu diesem Thema ist eindeutig – gerade im „Ring“.
    Leider geht die Besprechung überhaupt nicht auf die Leistungen der Sänger, des Chores, des Orchesters und des Dirigenten ein. Das ist ein hier auf die Spitze getriebener Trend der „Kritik“, den ich als Respektlosigkeit gegenüber den Interpreten empfinde.
    Guido Müller

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