Diese Amerikaner lieben es laut und wild – und sie begeistern mit Wagner!

The Cleveland Orchestra, Franz Welser-Möst,  Elbphilharmonie

Foto: Claudia Höhne (c)
The Cleveland Orchestra
Dirigent Franz Welser-Möst
Elbphilharmonie, Hamburg, 24. Oktober 2017
Ludwig van Beethoven, Streichquartett a-Moll op. 132 / Bearbeitung für Streichorchester
Igor Strawinsky, Le sacre du printemps / Bilder aus dem heidnischen Russland

von Sebastian Koik

Wow! Weltklasse-Wagner aus den USA! Als Zugabe spielen Franz Welser-Möst und sein Cleveland Orchestra in der Hamburger Elbphilharmonie zum Dahinschmelzen schön den Karfreitagszauber aus dem „Parsifal“ von Richard Wagner. Vom ersten Ton zaubert das Orchester mit vollendeter Tiefe und Zärtlichkeit. Die Solo-Oboe berührt. Hat man je eine schönere Oboe gehört als diese? Die Streicher erzeugen Gänsehaut, die Solo-Klarinette verführt Ohren und Herzen des Publikums. Die musikalische Spannung ist enorm groß. Das ist eine absolut perfekte und begeisternde Vorstellung. Mehr geht nicht. Himmlisch! Man möchte ewig in dieser Musik baden!

Franz Welser-Möst hat an der Wiener Staatsoper mehrfach Wagner dirigiert und wurde von Presse und Publikum dafür gefeiert. Nach diesem sensationellen Karfreitagszauber wünschte man ihm und sich, ihn auch bei den Bayreuther Festspielen im Graben zu erleben.

Davor gaben die Gäste aus den USA Le sacre du printemps / Bilder aus dem heidnischen Russland von Igor Strawinsky. Der renommierte Dirigent, der bereits seit 2002 das amerikanische Orchester leitet, erinnert im offiziellen Programmteil ein wenig an einen kleinen Jungen, der Spaß an Schnellem, Lautem und Wildem hat. Sobald es langsamer, leiser, gemächlicher zugeht, erweckt er an diesem Abend den Eindruck ein wenig uninspiriert und gelangweilt zu sein. Besonders deutlich wird es in Strawinskys Sacre. Hier zeigt er deutlich zwei sehr unterschiedliche Gesichter:

Wann immer es kraftvoller und schneller zugeht, begeistert das Orchester mit Feuer und Leidenschaft, spielt packend und mit Biss. Die Musiker agieren dann herrlich schön und erzeugen wunderbar musikalische Spannung. Die Blechbläser und Pauken entzücken mit bewundernswerter Präzision und herrlicher Attacke. Die Streicher und das Blech begeistern mit herrlicher Schärfe. Jeder einzelne aus dem Orchester musiziert sehr spritzig und großartig, gemeinsam nehmen sie das Publikum wunderbar mit.

In diesen Passagen zeigt sich der Dirigent Franz Welser-Möst sehr lebendig, stürzt sich in die Musik, dirigiert sichtbar leidenschaftlich und mit ausladenden Gesten und ausdrucksvoller Mimik.

Sobald die Komposition langsamer und leiser wird, wirkt Franz Welser-Möst ein wenig unterkühlt und unbeteiligt bei der Arbeit am Pult, und auch dem Orchester scheint es dann an Vitalität zu fehlen. Es erscheint der Eindruck, dass es für diesen Klangkörper hoch hergehen muss, um selbst begeistert zu sein und andere begeistern zu können. Die Musiker scheinen Tempo und Kraft zu lieben. Dass sie auch mit leisen Tönen überzeugen können, können die Amerikaner unter österreichischer Führung glücklicherweise in der Wagner-Zugabe noch zeigen.

Die Bearbeitung für Streichorchester von Ludwig van Beethovens Streichquartett a-Moll op. 132 in der ersten Hälfte des Konzerts ist der schwächste Teil des Abends. Es gibt nichts zu kritisieren, aber auch nichts positiv hervorzuheben. „Gepflegte Langeweile“ nennt es ein erfahrenerer Konzertbesucher in der Pause.

Das trifft es gut. Orchester und Dirigent machen keine Fehler und nichts direkt falsch, doch anspruchsvollere Musikliebhaber kann der Vortrag nicht berühren oder packen. Überhaupt ist in keinem Gesicht wirklich Spaß, Freude oder Begeisterung zu sehen – nicht beim Dirigenten, nicht im Orchester, nicht im Publikum.

Das Cleveland Orchestra agiert im Streichquartett teilweise zu träge, zu wenig spritzig, erzeugt nur selten musikalische Spannung. Die Musiker holen keine Tiefe oder Beseeltheit aus Beethovens Komposition. In der Mitte des Stückes flammt auch mal kurz Leidenschaft auf, insgesamt ist der Vortrag zu blutleer.

Das könnte auch am (Reise-)Stress liegen. Die Musiker sind aus Amerika zur „Europa Tournee“ angereist und legen große Distanzen zurück. In der Vorwoche haben sie am Montag in der Philharmonie de Paris und von Donnerstag bis Sonntag jeden Tag (!) im Musikverein in Wien gespielt – am Samstag dasselbe Programm wie an diesem Abend. Mittwoch, 25. Oktober, spielen sie erneut in der Elbphilharmonie: Gustav Mahlers 6. Sinfonie – klassik-begeistert.de berichtet am 26. Oktober. Am Freitag und Samstag treten die Amerikaner dann noch in der Luxembourg Philharmonie auf – ein unglaubliches Programm!

Auch Mitglieder eines Spitzenorchesters sind Menschen und keine Maschinen. Auch die Wiener Philharmoniker waren im Januar 2017 an ihrem zweiten Abend in der Elbphilharmonie deutlich stärker als am ersten, an dem sie deutlich erschöpft, wenig frisch und schlecht gelaunt wirkten.

Die Musiker aus den USA sind im Verlauf des Abends immer stärker geworden und begeisterten zum Schluss mit vollendetem musikalischen Vortrag. Man darf sehr gespannt sein und sich freuen auf den zweiten Abend dieses renommierten amerikanischen Big 5-Orchesters in Hamburg am Mittwoch … und der ein oder andere wird hoffen, diesen Dirigenten einmal in Bayreuth am Pult erleben zu dürfen.

Sebastian Koik, 25. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert