Die Arien haben promenieren gelernt – Il viaggio a Reims an der Deutschen Oper Berlin

Gioacchino Rossini: Il viaggio a Reims, Deutsche Oper Berlin, 15. Juni 2018

Foto: Thomas Aurin (c)
Gioacchino Rossini: Il viaggio a Reims, Deutsche Oper Berlin, 15. Juni 2018

von Martin Schüttö

Eine illustre Gesellschaft vornehmer Sonderlinge will zur Krönung des neuen französischen Königs Karl X. nach Reims reisen, nur leider sind keine Pferde zu bekommen, und so feiert der zusammengewürfelte Haufen einfach schon mal alleine in Paris – kleinere amouröse Verwicklungen, Primadonnengehabe und was die Restaurationszeit noch so zu bieten hat, natürlich all inclusive. Man trifft sich schließlich im Hotel „Zur Goldenen Lilie“, das in der neuen Inszenierung von Jan Bosse an der Deutschen Oper Berlin zum Krankenhauszimmer umgestaltet wird.

Das Programmheft will uns mit einem Zitat aus Thomas Manns Zauberberg auf eine Fährte locken, die Jan Bosse kaum ausgeleuchtet hat. Die Gesellschaft ist bunt und europäisch, die Gestalten als kränkelnde Sanatoriumsgäste glaubhaft; aber tiefsinnig, religiös-philosophisch geht es hier kaum zu.

Als Rossini Il viaggio a Reims komponierte, war er sich bewusst, dass er auch nur einen Teil zum spektakulären Unterhaltungsprogramm für den neuen König beisteuerte. Dass die Oper dem Publikum, aber leider nicht dem König gefiel, war für den Komponisten trotzdem kein großer Verlust. Nach nur vier Vorstellungen zog er seine Oper zurück, und das mit klugem Kalkül – in Le Comte Ory konnte Rossini bereits drei Jahre später einen Großteil der Nummern wiederverwenden.

Kein Wunder, denn mit der Handlung eng verwoben sind die einzelnen Nummern nur selten. Vielmehr wird eine Arie nach der anderen geliefert, man scheut sich auch nicht abonnentenfreundliches Rampensingen abzuliefern. Vielmehr wird diese Opernpraxis mit einem großen Augenzwinkern entblößt. Da setzt ein Tenor mit hoch erhobener Hand an und muss doch verstummen, weil hinter ihm Madame Cortese (Hulkar Sabirova), hier die Chef-Krankenschwester, ihre Nummer ganz selbstverständlich fortführt. Zu den Koloraturen wird entweder beherzt mit geblümtem Stoff gewedelt oder werden rhythmisch-laszive Bewegungen vollzogen, was im Publikum für ausreichend Lacher sorgt.

Hier ein Hippie-Wunderheiler, der im tiefen Register kräftig grummelt, da eine Modeschöpferin, die in Ohnmacht fällt, weil es an adäquater Garderobe mangelt. Diese Contessa di Folleville (Siobhan Stagg) glänzt dafür mit großer stimmlicher Agilität und verleiht ihren Koloraturen eine sanft hüpfende Qualität, die der Leichtigkeit des Werks angemessen ist.

Im Orchestergraben wünscht man sich gelegentlich noch mehr davon. Das Dirigat von Giacomo Sagripanti fließt glatt dahin, präsentiert bereits in der Ouvertüre eine spritzige Triller-Orgie, aber ist in der Sängerbegleitung manchmal zu stark. Es mag auch an dem spiegelnden Glaskasten liegen, der bestimmend für die Bühnengestaltung über den Abend hinweg bleibt, aber einige Stimmen tragen nicht über das Orchester.

Großartig sind hingegen die Momente, wenn die Musik vollständig auf der Bühne steht. In diesem Stück wird Musik gemacht und im Grunde geht es auch nur um die unbändige Freude daran. Wie herrlich sind die beiden harfenbegleiteten Arien der Dichterin Corinna (Elena Tsallagova), die auch etwas Ruhe in die sonst wie eine Zirkusnummer inszenierten Arien bringt. Die Bühne wird verdunkelt und, wie Kinder, die ein Schlaflied hören, umringt das verrückte Ensemble die in Goldstoff eingehüllte Dichterin, Kerzenleuchter in der Hand haltend und lauscht. Die Kantilene von Elena Tsallagova zwingt zur Genießerhaltung und zeigt auch die Vorzüge dieses einaktigen Dramma giocoso. Es braucht gar keine Konfetti-Kanone am Ende der Arie – ja, das gab es auch – um anzuzeigen, worum es hier geht.

Ganz ohne Ernst – in diesem Fall: Politik – geht es dann aber doch nicht. Im Schlussbild darf jede anwesende Nation ein Lied vortragen, bevor alles auf die Lobpreisung des französischen Königs hinausläuft. Besonderes Vergnügen bereitet der Auftritt von Lord Sidney (Mikheil Kiria) mit einem neuen Text auf God save the king. Der Wechsel zum Feierlichen nimmt sich bei Mikheil Kiria besonders schön aus und seine kräftige und volltönende Darbietung ließ kurz glauben, man wäre bei den Proms.

Nationale Klischees werden voll ausgespielt, Labels in Form von umhängbaren Metallplatten mit Leuchtreklame verteilt und auch die Badehosen zeigen Flaggen. Mit viel Witz singt Don Profondo (Davide Luciano) über verschiedene nationale Eigenheiten, wobei man die Deutschen etwa mit dem Kontrapunkt assoziiert. Bach sei Dank!

Schließlich werden die nationalen Hosen runtergelassen und eine glänzende Reihe Europa-Shorts kommt zum Vorschein. Was es zu bedeuten hat, dass die Reihe mit dem Engländer Lord Sidney beginnt, bleibt noch zu fragen… Schließlich stehen alle anwesenden Nationen in Europa-Shorts auf der Bühne, was vom begeisterten Premierenpublikum mit stürmischem Beifall bedacht wird.

Giacomo Sagripanti, Musikalische Leitung
Jan Bosse, Inszenierung
Stéphane Laimé, Bühne
Kathrin Plath, Bühne
Kevin Sock, Licht
Meika Dresenkamp, Video
Lars Gebhardt, Dramaturgie
Elena Tsallagova, Corinna
Vasilisa Berzhanskaya, Marchesa Melibea
Siobhan Stagg, Contessa di Folleville
Hulkar Sabirova, Madama Cortese
Gideon Poppe, Cavaliere Belfiore
David Portillo, Il Conte di Libenskof
Mikheil Kiria, Lord Sidney
Davide Luciano, Don Profondo
Philipp Jekal, Barone di Trombonok
Dong-Hwan Lee, Don Alvaro
Sam Roberts-Smith, Don Prudenzio
Juan de Dios Mateos, Zefirino
Alexandra Ionis, Maddalena
Meechot Marrero, Modestina
Davia Bouley, Delia
Byung Gil Kim, Antonio
Orchester der Deutschen Oper Berlin

Martin Schüttö, 16. Juni 2018,
für klassik-begeistert.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert