„Ich denke bewusster darüber nach, was ich gerade wirklich brauche und bemerke, dass es nicht so schwer ist, sich auch mal einzuschränken. Die Rückbesinnung auf die Familie und die intensive Zeit mit meinem Kind genieße ich sehr.“
Nadine Lehner, geboren in Bayern, absolvierte ihre Gesangsausbildung an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin bei Norma Sharp. 2002 debütierte sie an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin als Papagena in Mozarts „Zauberflöte“ und sang dort weitere Rollen während ihres Studiums unter namhaften Dirigenten. Gastverträge führten sie später unter anderem an die Deutsche Oper Berlin, ans Theater Bonn, zu den Salzburger Festspielen sowie nach Kanada, China und Singapur, wo sie auch mit Peter Ruzicka, Ivor Bolton oder Kent Nagano arbeitete. Zuletzt sang sie an der Nationaloper Athen unter Vassili Christopoulos Marie im „Wozzeck“. Seit 2004 gehört Nadine Lehner zum Ensemble des Theaters Bremen und sang dort große Partien ihres Fachs wie Agathe in „Der Freischütz“, Katerina in „Lady Macbeth von Mzensk“, Leonore in „Fidelio“ und Kundry in „Parsifal“, für deren Interpretation sie für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST 2017 nominiert war. Für ihre herausragenden Leistungen wurde ihr in Bremen der Kurt-Hübner-Preis und der Silberne Roland verliehen. Nadine Lehner wurde kurz vor Beginn der Proben für „Jenufa“ am Bremer Theater aus ihrem beruflichen Alltag gerissen und betätigt sich jetzt als „Vollzeit-Mutter“ in Bremen.
Fotos: Esther Haase / Thomas Ratzek (c)
von Dr. Petra Spelzhaus
klassik-begeistert.de: Was haben Sie vor einem Jahr getan und wie sieht Ihr Alltag heute aus?
Vor einem Jahr habe ich in Bochum konzertant Kundry mit den Bochumer Symphonikern gesungen. Parallel dazu liefen in Bremen die Proben zu „Die tote Stadt“ von Korngold, Regie führte Armin Petras, die Premiere war Mitte April. Meine letzte Vorstellung im Musiktheater Bremen hatte ich vor vier Wochen als Marschallin in Strauss‘ Rosenkavalier, wie sich herausstellte die letzte Aufführung des Theaters vor Corona… Zu Beginn des Jahres sang ich noch an der Nationaloper Athen die Marie in Wozzeck. Die letzte Aufführung war Anfang Februar 2020.
Aktuell wären in Bremen gerade die Proben für Jenufa von Janàček gestartet. Stattdessen verbringe ich den Tag überwiegend zu zweit mit meinem Sohn. Zum Glück konnten wir seinen fünften Geburtstag vor der Kontaktsperre noch ausgiebig mit seinen Freunden feiern. Jetzt darf er gelegentlich eine Freundin sehen und vermisst den Kindergarten und seine weiteren Freunde. Mein Mann ist mit seiner Arbeit als Leiter einer Rehaeinrichtung für Suchtkranke voll im Einsatz.
Vor wenigen Tagen konnte ich erfreulicherweise einen Schrebergarten übernehmen. Nun flüchte ich mich in Gartenarbeit, buddele in der Erde oder begebe mich mit meinem Sohn auf Suche nach Tieren wie Regenwürmern und Marienkäfern. Daneben versuche ich – um nicht aus der Übung zu kommen – täglich mindestens 45 Minuten zu singen. Ich habe mir mal wieder das italienische Repertoire und Arien von früher vorgenommen, halt alles, was Spaß macht. Mit meinem Gesangscoach, der jetzt bedingt durch Corona in New York bleiben muss (er korrepetiert eigentlich auch am Theater), habe ich ein paar Mal via Skype gearbeitet.
Nennen Sie bitte drei Schlagworte, wenn Sie das Wort Corona hören…
Soziale Isolation, Angst (dass man unwissentlich zum Überträger wird), Unwissenheit.
Welches sind die einschneidendsten Veränderungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Können Sie ihr auch etwas Positives abgewinnen?
Persönlich vermisse ich den Kontakt zu Freunden und Kollegen, das gemeinsame Mittagessen oder Kaffeetrinken, die Proben und die Freizeit, die man miteinander verbringt. Die Reisemöglichkeiten sind komplett eingeschränkt, eigentlich wollte ich vor Probenbeginn noch meine Schwester in Augsburg besuchen oder mal wieder nach Berlin fahren. Mir fehlen die kulturellen Einrichtungen, der Gang durch die Museen, die Stadtbibliothek, die Aufführungen im Theater. Ich denke bewusster darüber nach, was ich gerade wirklich brauche und bemerke, dass es nicht so schwer ist, sich auch mal einzuschränken. Die Rückbesinnung auf die Familie und die intensive Zeit mit meinem Kind genieße ich sehr. Die Idee eines eigenen Schrebergartens beschäftigt mich schon länger, wurde aber durch meine durch Corona veränderte Tagesstruktur stark genährt. Durch einen glücklichen Zufall konnte ich nun kurzfristig einen wunderschönen Garten übernehmen. Dafür bin ich sehr dankbar.
Ich bemerke indes bewusst, dass ich meinen Beruf wahnsinnig vermisse. Singen ist meine größte Erfüllung und Leidenschaft. Durch diese Krise wird einem noch mehr bewusst, was einem im Leben viel bedeutet und neue Dinge geraten in den Focus.
Womit verdienen Sie sich normalerweise ihre Brötchen? Wie ist die Situation nach Aussetzen sämtlicher kultureller Veranstaltungen?
Ich habe glücklicherweise ein Festengagement am Bremer Theater , habe daher eine finanzielle Grundabsicherung. Das Theater hat Kurzarbeit angemeldet und uns zugesichert, den finanziellen Verlust erst einmal auszugleichen. Mal schauen, wie lange sich das durchhalten lässt. Meine freischaffenden Konzerte fallen natürlich auch weg und die damit verbundenen Einnahmen. Gerade zu Ostern finden ja neben der Adventszeit die meisten Konzerte statt. Speziell für freischaffende Kollegen eine Katastrophe!
Durch die plötzliche Absage aller kulturellen Veranstaltungen verschiebt sich am Bremer Theater die Musiktheaterpremiere des Falstaff , die vor Probenbeginn von Jenufa geplant war. Dadurch ist der ganze aktuelle Spielplan, wahrscheinlich auch der der kommenden Spielzeit nicht mehr zu halten. Meine Premiere Jenufa wandert – wie es jetzt schon beschlossen ist – gar in die übernächste Saison. In der kommenden Spielzeit wäre ich wahrscheinlich an drei Produktionen beteiligt gewesen. Wenn alles günstig läuft und Falstaff tatsächlich diese Saison gespielt wird, singe ich meine nächste Aufführung am 20. September 2020 , sonst noch später. Ich war tieftraurig, als ich erfuhr, so lange nicht vor Publikum singen zu dürfen. Selbst als mein Sohn geboren wurde, stand ich acht Wochen später für ein Konzert wieder auf der Bühne. Ich fühle mich sehr ausgebremst, übe aber tapfer jeden Tag weiter.
Wie gelingt es einem Sänger, ohne Publikum bei Laune zu bleiben?
Das Üben hebt meine Stimmung. Ebenso die Arbeit in der Natur. Mit meinem Sohn höre ich Kinderlieder und tanze mit ihm dazu, das macht Laune!
Eine Frage, die mich als Ärztin besonders interessiert: Mit welchem Musikwerk stimulieren Sie Ihr Immunsystem?
Zugegebenermaßen höre ich privat nur wenig klassische Musik. Künstler, die mein Immunsystem stimulieren sind auch Adele, Amy Winehouse oder Jamie Cullum. Bei der Hausarbeit höre ich gern Internet-Radiosender „Absolut Relax“.
Momentan verbringen viele Musikliebhaber viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Gibt es ein Buch, eine CD oder auch Streamingangebot, das Sie uns dringend empfehlen würden?
Nach meinem Kinderbespaßungstag bin ich abends immer sehr müde und komme gar nicht mehr wirklich zum Lesen. Die letzten beiden Bücher, die ich gelesen habe und wärmstens empfehlen kann, sind „Drei“ von Dror Mishani und „Kleine Feuer überall“ von Celeste Ng. Die äußerst kurzweilige Serie „The Marvelous Mrs. Maisel“ ist ein schönes Streaming-Angebot. Insgesamt möchte ich aber dafür plädieren: Schaut nicht zu viel Fernsehen oder im Internet, geht raus an die frische Luft, Sonne hilft die Laune zu verbessern und Vitamin D stärkt das Immunsystem.
Kommen wir zur ersten Frage zurück : Wo sehen Sie sich in einem Jahr?
Ich hoffe sehr, dass ich in einem Jahr wieder in Proben stecke und auf der Bühne stehe.
Es gibt Zukunftsforscher, die nach überstandener Corona-Krise eine Verbesserung des Weltklimas – ökologisch wie sozial – prophezeien. Teilen Sie diese Einschätzung? Wie ist Ihre Vision?
Ich denke, dass wir unsere täglichen Gewohnheiten ändern werden beziehungsweise auch ändern müssen. Vermutlich wird das Reisen nicht mehr so einfach sein, es wird teurer werden, und es wird mehr Auflagen geben. Die Abschottung aller Länder untereinander wird wohl noch andauern. Für die Natur natürlich toll, aber für uns bedeutet das Veränderungen in unseren Freiheiten und Gewohnheiten. Der Umgang mit der Natur wird sicher allgemein bewusster. Es ist doch schön, dass in China die Kinder wieder blauen Himmel sehen können und das Wasser in den Kanälen Venedigs so klar ist, dass man Fische beobachten kann. Man wird sehen, ob die Natur durch Corona auf Dauer profitiert.
Sozial würde ich es mir sehr wünschen! Zumindest werden wir es nach Corona wahnsinnig genießen in Gesellschaft zu sein und Freunde und Familie intensiv um uns zu haben. Aber ganz allgemein gesagt, wird die Angst bleiben und die Unbefangenheit erstmal weg sein. Es wird sicher lange in unseren Köpfen bleiben, was Corona mit unserem Leben gemacht hat!
Schauen wir in die Glaskugel: Die Heilige Corona, auch Schutzpatronin gegen Seuchen, hat ein Einsehen mit uns und beendet die Pandemie. Alle Musikclubs, Theater und Opernhäuser öffnen wieder. Für Ihren ersten Auftritt haben Sie drei Wünsche frei: Wo, in welcher Produktion und mit wem teilen Sie die Bühne?
Ich möchte genau dort weitermachen, wo ich aufgehört habe. Mit dem wunderbaren Team Armin Petras (Regie) und Yoel Gamzou (Dirigent) und meinen tollen Kollegen die Proben zu Jenufa wieder aufnehmen und die Premiere in Bremen singen. Danach gerne auch noch an anderen Häusern. Ich freue mich so sehr auf diese großartige Oper!!!
Interview: Dr. Petra Spelzhaus, 8. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Super Interview- Kompliment 👍Ich kenne Nadine aus ihrer Zeit im Gymnasium in Hof (als Freundin meiner Tochter), freue mich sehr über ihre Erfolge und bin stolz auf sie! Solche Pesönlichkeiten braucht das Land 👏👏👏
Maria Dütz