© Karl und Monika Forster
Richard Wagner, Das Rheingold
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen, 24. Mai 2019
von Ingo Luther
Arbeit und der Mythos des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet sind die zentralen Themen, die Michael Schulz in den Mittelpunkt seiner Regie von „Das Rheingold“ am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen stellt. Das Konzept geht dabei zumindest teilweise auf, lassen sich diese Elemente inhaltlich in den Kosmos der Wagnerschen Götterwelt zwischen dem vor sich hin fließenden Rhein, der brutalen Arbeitswelt in Alberichs Zwergenreich und dem pompösen Einzug der Götter in ihre protzige Burg transferieren. Kapitalismuskritik gepaart mit einer geradezu märchenhaften, bildgewaltigen Erzählweise sorgen für 2 1/2 Stunden spannenden Musiktheaters. Eigentlich bedauerlich, dass Schulz seine Geschichte nicht weitererzählen möchte und das Rheingold als einziger Abend der Ring-Tetralogie in Gelsenkirchen zur Aufführung gelangt.
Der Urzustand der Welt und die Naturgewalt des Rheines sind der Ausgangspunkt des gesamten Ring-Monumentes und werden vom Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen unter der Leitung von Giuliano Betta wunderbar differenziert und in sämtlichen Schattierungen und Tempi der Fließbewegungen in der Unendlichkeit der Zeit ausgeleuchtet. So beginnt der Abend mit großflächigen Projektionen des dahinströmenden Flusses und der Einfahrt des „Rheingold-Express“ in seinen mystischen Unterwasser-Bahnhof.
Es war der Luxuszug „Rheingold“ der Deutschen Reichsbahn, der ab 1928 für eine äußerst komfortable Verbindung von Holland bis an den Rand der Alpen sorgte. Warum sollen die Götter also nicht auch Erster Klasse nach Walhall reisen? In ihrem spektakulären Bühnenbild lässt Heike Scheele diesen Prunkzug zum zentralen Spielort der ersten beiden Szenen werden. Die Rheintöchter tauchen hinter der Bar des Speisewagens auf und beginnen sorglos und naiv ihr gefährliches Spiel mit dem tumben Zwerg Alberich. Woglinde (Bele Kumberger), Wellgunde (Lina Hoffmann) und Floßhilde (Nohad Becker) bringen Alberich mit ihren langen Beinen und ihren lasziven Gesten gekonnt um den Verstand. Gesanglich bewegt sich das Nixen-Trio auf erfreulichem Niveau – das homogene Gesamtbild leidet dabei nicht unter der zum Teil wilden Kletterei in und um den majestätischen Zug.
Die Götter-Gesellschaft – Wotan, seine Gattin Fricka, Freia, Donner und Froh – ist derweil in ihrem Schlafwagen der Ersten Klasse auf dem Weg zum feierlichen Einzug in die neu erbaute Götterburg Walhall. Hier hat die Regie und die Personenführung ihre stärksten Momente an diesem Abend: Bastiaan Everink als Wotan ist nicht nur optisch der klare Chef dieser illustren Bahngesellschaft – sein warmer, klangschöner Wagner-Bariton transportiert facettenreich die Zerrissenheit zwischen ehelicher und familiärer Verpflichtung und grenzenloser Gier nach Macht. „Weibes Wonne und Wert“ verkörpert mit schauspielerischer Raffinesse die Fricka von Almuth Herbst. Sie begegnet ihrem Göttergatten auf Augenhöhe.
Freia, optisch ein wenig an Lilo Wanders erinnernd, sorgt etwas dümmlich aber umso fürsorglicher mit einem Korb voller Äpfel dafür, dass den Göttern mit diesem Zauberobst weiterhin ewige Jugend und Vitalität beschert wird. Leider hat Wotan sie als Lohn für den Bau der Burg den beiden Riesen Fasolt und Fafner versprochen – bei dessen Nahen flüchtet sie sich panisch unter die Liege in ihrem Abteil. In einer großflächigen Videoprojektion erscheinen die beiden Riesen in gewaltiger Größe hinter dem Zug. Der Effekt bricht leider in sich zusammen, wenn Fasolt und Fafner dann leibhaftig und lediglich ein wenig „ausgepolstert“ im Wagon der Götter erscheinen, um den Lohn für ihre geleistete Arbeit einzufordern.
Bis hierher gelingt die szenische Umsetzung des Regiekonzeptes meisterhaft! Mit dem Übergang in die Dritte Szene und die nächtliche Zwergenwelt der Nibelungen beginnt dann der schwächere Teil der Produktion. Ab jetzt wird zwanghaft versucht, in der rauen Welt Nibelheims Bezüge zum Ruhrgebiet und dem Ende des Steinkohlebergbaus herzustellen. Unter rauchenden Schornsteinen fahren Wotan und Loge in einer Bergbau-Lore unter Tage ein und treffen auf Mime, der mit einer Art Putzwagen unterwegs ist. Die Verwandlungen durch den Tarnhelm bleiben ebenfalls unspektakulär und langweilig: „Riesen-Wurm winde sich ringelnd“ – Alberich verlässt kurz die Bühne und eine Art silberne Belüftungsröhre schlängelt sich statt seiner durch Nibelheim. Sicherlich keine szenische Glanzleistung. Auch die Verwandlung Alberichs in eine Kröte bleibt in der Umsetzung in Sachen Originalität wenig überzeugend. Stimmlich kann Tobias Glagau als geschundener Mime mit einem sauber geführten, wohlklingenden Tenor aufhorchen lassen.
Zurück „über Tage“ bleibt die „Freie Gegend auf Bergeshöhen“ in der vierten Szene dann eine weitgehend freie Bühne, auf der sich Wotan endgültig in den Besitz des Goldschatzes bringt. Urban Malmberg lässt seinen Alberich einen kraftvollen, frustrierten Fluch ausstoßen, bleibt jedoch – wie bereits bei seinem Liebes-Fluch – den letzten Grad an Hass, Resignation und Verbitterung schuldig. Die Interpretation des Nibelungen-Chefs bleibt insgesamt blass.
Der Fortgang des Abends lässt sich relativ schnell zusammenfassen: Freia wird in einer gläsernen Box durch verschiedenste Beutestücke des goldenen Schatzes (sogar lebendige, vergoldete Krieger sind darunter) verdeckt und kehrt als Spenderin der ewigen Jugend in den Kreis der Götter zurück. Der Einzug in die trutzige Götterburg Walhall erfolgt durch das Durchschneiden eines Bandes unter dem etwas albernen Winken einer Kinderschar und unter den Augen offizieller Honoratioren, die dem feierlichen Einweihungszeremoniell als offizielle Statisten beiwohnen. Ob das von den Rheintöchtern hoch gehaltene Transparent mit der Aufschrift „Gold macht Lust“ für den Fortgang der Geschichte von Tragweite ist, vermag jeder Zuschauer für sich entscheiden. Auch die Rückseite des Transparents mit der Aussage „Ihr hattet die Wahl“ hinterlässt ein imaginäres Fragezeichen. Ebenso wie der Kubus, auf dem in leuchtenden Lettern der Begriff „Mythos“ prangt, und der ein wenig „over the top“ wirkt. Weniger geschriebene Worte auf der Bühne wären hier mehr gewesen.
Stimmlich setzen an diesem Abend zwei Darsteller ein besonderes Ausrufungszeichen: Almuth Herbst besticht als Fricka mit einem enorm textverständlichen, in den verschiedenen Registern wunderbar beweglichen Mezzosopran. In einer eher seltenen Doppelbesetzung singt sie auch noch die Rolle der Urmutter Erda: Ihre Warnung „Ein düstrer Tag dämmert den Göttern: dir rat ich, meide den Ring“ erklingt mit einem solch geheimnisvollen, samtenen Timbre, dass auch Göttervater Wotan in seiner Habgier inne hält und einen Moment nachdenklich zu werden scheint. Im wirklichen Leben ist Almuth Herbst übrigens genauso vielseitig: Neben ihrer Tätigkeit als Sängerin ist sie auch noch als erfolgreiche Roman-Autorin unterwegs. Note Eins mit Sternchen an diesem Abend für die Bocholterin!
Ebenfalls in Bestform: Cornel Frey als pfiffiger Feuergott Loge, der stets in jedem Moment die passende Idee und die richtige Tat für den oftmals unentschlossenen Wotan hervorzaubert. Mit seinem kernigen Tenor mit einer beeindruckenden Textverständlichkeit und seiner quirligen Spielfreude liegt der Schweizer in der Publikumsgunst ganz klar vorne. Im Intrigenspiel aus Liebe, Macht und Gier behält er als Einziger einen klaren Blick auf die Dinge. Mit seinem „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark im Bestehen sich wähnen“ – nimmt er das Ende des rund 16-stündigen Gesamtwerkes mit einer wissenden Gelassenheit vorweg. Eine durchaus bayreuthverdächtige Performance.
Überhaupt kann das Musiktheater im Revier damit punkten, nahezu sämtliche Rollen mit Sängern aus dem hauseigenen Ensemble zu besetzen. Dies gelingt zu einem Großteil hervorragend. Michael Heine als Riese Fafner bleibt dabei einiges an Textverständlichkeit schuldig, während Joachim Gabriel Maaß als Fasolt seinem Riesen-Bruder diesbezüglich überlegen ist. Der angenehme, schlanke Tenor von Khanyso Gwenxane verleiht dem Gott Donner seine Stimme, während sich Petra Schmidt als Göttin Freia primär durch ihr wirres, manchmal lächerliches Spiel in Szene zu setzen weiß. Sie hat man auch stimmlich in Gelsenkirchen schon in deutlich stärkeren Rollen-Interpretationen erlebt.
Mit Giuliano Betta steht in dieser Produktion der 1. Kapellmeister und stellvertretende GMD am Pult. Für einen italienischen Maestro agiert er überaus sorgsam und vorsichtig und leitet das Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen ruhig mit Besonnenheit und Ruhe durch die Fahrrinne des Rheins. In der Lautstärke nimmt er den Klangkörper eher zurück und legt einen Akzent auf die Verständlichkeit des gesungenen Wortes. Eine musikalische Leistung auf hervorragendem Niveau.
Insbesondere der glänzend in Szene gesetzte Rheingold-Express ist ein hervorragender Ansatz, der leider nur bis zur 2. Szene verfolgt wird. Danach verliert sich die Bühne zunehmend in einer Aneinanderreihung von Klischee-Instrumenten. Am Ende bleibt der Eindruck von einem musikalisch beachtlichen Rheingold, welches leider ohne Fortsetzung stehen bleiben wird. Das Ruhrgebiet wartet weiter auf die Aufführung des gesamten Ring-Werkes und blickt dabei nach Dortmund, wo ab 2020 Peter Konwitschny mit einer Neuproduktion ins Rennen gehen wird.
Schade, auch Michael Schulz wäre in Gelsenkirchen die Entwicklung eines erfolgreichen Revier-Rings zuzutrauen gewesen. Sein Rheingold zündet, mit einigen Abstrichen, aber auch als Einzelwerk. Wer das noch nicht getan hat, sollte sich davon am 30.05., 2.06., 9.06., 20.06. und 30.06. im Musiktheater im Revier überzeugen.
Ingo Luther, 25. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Giuliano Betta
Inszenierung: Michael Schulz
Bühne: Heike Scheele
Kostüme: Renée Listerdal
Dramaturgie: Dr. Olaf Roth
Licht: Patrick Fuchs
Wotan: Bastiaan Everink
Donner: Zhive Kremshovski
Froh: Khanyiso Gwenxana
Loge: Cornel Frey
Alberich: Urban Malmberg
Mime: Tobias Glagau
Fasolt: Joachim G. Maaß
Fafner: Michael Heine
Fricka: Almuth Herbst
Freia: Petra Schmidt
Erda: Almuth Herbst
Woglinde: Bele Kumberger
Wellgunde: Lina Hoffmann
Floßhilde: Nohad Becker
Orchester der Neuen Philharmonie Westfalen