Wiener Philharmoniker
Christian Thielemann
von Kirsten Liese
Einen Bruckner-Zyklus mit der Achten zu beginnen, ist eine weise Entscheidung. Nicht zufällig bezeichnete der geniale Bruckner-Dirigent Sergiu Celibidache sie als „Krone der Symphonik“, weil sich in diesem Werk am besten der Anfang im Ende erleben lässt. Denn die Frage, die am Ende des desolaten ersten Satzes offen bleibt, erfährt erst unmittelbar vor der Coda des Finalsatzes mit der Wiederkehr des „Todesthemas“ vom Anfang Antwort. Der Komponist selbst erklärte dazu, die Posaunen kämen im vierten Satz „zum Zeichen des Letzten Gerichtes an das Ende.“
Anders als Celi, der stets die Symphonie in ihrer bekannten zweiten Fassung von 1890 dirigierte, hat Christian Thielemann für seine Einspielung mit den Wiener Philharmonikern eine hörenswerte Mischfassung aus der ersten und zweiten Fassung von Robert Haas gewählt, die aber – so wie ich beim Mitlesen der Partitur feststellen konnte – nur an wenigen Stellen von der bekannten zweiten abweicht.
Hätte ich die Aufnahme blind ohne Kenntnis der Interpreten gehört, hätte ich sogar auf Celibidache und die Münchner Philharmoniker gewettet, da Christian Thielemann und die Wiener hier in gleicher Weise in entsprechend gemessenen Tempi den klanglichen Reichtum der Musik hörbar machen.
Insbesondere die Ecksätze und das Scherzo gehen viele Dirigenten der Gegenwart oftmals zu schnell an, sogar unter Thielemann hörte ich schon Bruckner-Abende, wo mir der eine oder andere Satz eine Spur zu schnell daherkam.
Das ist diesmal definitiv nicht der Fall, alle Instrumente können sich in aller Ruhe aufs Prächtigste entfalten, Hörner, Posaunen und Trompeten, die dem Ohr ohnehin einen größeren Einschwingungsvorgang abverlangen, gleichermaßen wie Oboen und Klarinetten bei ihren zahlreichen solistischen filigranen Überleitungen oder auch die Harfe mit ihren silbernen, glitzernden Girlanden.
Was für jede Bruckner-Aufnahme gilt, gilt freilich auch hier: Die mächtigen Gipfelgänge im Fortissimo überfordern jede noch so gute Aufnahmetechnik, folglich geben sie nur eine Ahnung von dem realen Klangerlebnis.
Aber abgesehen von den dynamischen Spitzen vermittelt sich sehr eindrücklich die einmalige Klasse der Wiener Philharmoniker, deren Klang- und Tonschönheit – insbesondere auch die der Streicher – mich noch mehr besticht als zuletzt die der Münchner Philharmoniker bei ihrem letzten Brucknerzyklus unter Valery Gergiev. Im „Allegro moderato“ verordnet Bruckner Violinen, Bratschen und Celli viele aufwärts strebende Skalen und Triolen, die allesamt schwergewichtig mit Abstrich zu spielen sind, „breit und markig“, wie Bruckner hier und da in den Noten vermerkte, was die Wiener auch mit Wohllaut, Fülle und Wärme zelebrieren, dass es eine Wonne ist.
Das Herzstück der Sinfonie ist freilich das Adagio, und was das betrifft, bescherte mir diese wunderbare Aufnahme eine erstaunliche Hörerfahrung, die auch wieder etwas bestätigt, was Celibidache einmal sagte: Dass Tempo nicht gleich Tempo ist, will sagen, es kommt nicht auf die mit der Stoppuhr real messbare Zeit an, sondern auf die empfundene, die davon tatsächlich enorm abweichen kann.
Jedenfalls dachte ich schon beim ersten Hören, dass Thielemann und Wiener in diese Musik genauso genüsslich langsam eintauchen wie Celibidache mit seinen Münchnern, es hörte sich genauso an. Welche Überraschung dann aber beim Vergleich der Zeiten: bei Thielemann steht 26 Minuten und 26 Sekunden, bei Celibidache 35 Minuten und vier Sekunden. Wie kann das sein? Hat mich meine Erinnerung so getäuscht? Nein, die empfundene Zeit, gemessen vor allem an der Gestaltung in Klang und Expressivität, ist eben eine andere. „Feierlich langsam, doch nicht schleppend“ hat Bruckner über dieses Idyll in Des-Dur geschrieben, das mit Synkopen ganz im Pianissimo beginnt und in Takt 20 eines der schönsten, trostreichsten, lyrischen Gänsehaut-Themen in den Violinen anstimmt, das nach zwei Takten mit Vierteln, „lang gestrichen“, wie vom Komponisten vermerkt, crescendierend einen wunderbaren Höhepunkt mit flutenden Harfenklängen erreicht. Was für ein Prickeln, was für eine Sinnlichkeit, was für eine Schönheit!
Von wegen zu langsam, wie irgendjemand schrieb: Es braucht diese unendliche Ruhe, um all die zarten, berührenden Motive so bewusst wahrnehmen und erleben zu können. Darin liegt die Magie.
Ganz vorzüglich freilich auch die Übergänge in den Sätzen, wenn zunehmend weniger Instrumente spielen, im Ritardando die Musik abebben lassen bis zu einer Zäsur, auf die dann ein im Charakter gänzlich anderer Block folgt, oder wenn auf das zackige Gewitter im Scherzo das Trio mit der zarten, elegischen Melodie in den ersten Violinen einsetzt.
Aber auch Momente, in denen die Melodie einer Flöte ausläuft oder die Pauke die Musik bestimmend düster grundiert wie in einigen Stellen im Finalsatz, brennen sich einem tief ein.
Und was für ein Moment, wenn zur Krönung beim Erreichen eines dynamischen Höhepunkts das Blech hinzukommt, da geht einem wahrlich ein Schauer über den Rücken.
Schon darf man gespannt sein auf die folgenden Einspielungen. Für April kündigt das Label die dritte Symphonie an, die Erste und die Fünfte sind auch schon im Kasten.
Bei alledem wäre es freilich allzu schön, wenn dieser besondere Bruckner-Zyklus, aufgenommen im Goldenen Musikvereinssaal, vor Publikum noch einmal stattfinden könnte. Zum Glück ist das große Bruckner-Jubiläum anlässlich des 200. Geburtstags erst 2024, bis dahin geht ja vielleicht noch was.
Kirsten Liese, 10. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Der Klang der Wiener und Münchner Philharmonikern unterscheidet sich vor allem durch die leicht unterschiedlichen Instrumente der beiden Orchester. Besonders bei den Pauken ist dies deutlich zu hören, da diese in Wien mit Ziegenfell bespannt sind statt dem sonst üblichem Kalbs- oder mittlerweile auch Kunstfell. Dies führt allgemein zu einem deutlich weicheren Klang (wohlbemerkt, dass der genaue Klang natürlich auch u.a. von den eingesetzten Schlägeln sowie der Spieltechnik maßgeblich beeinflusst wird). Brahms soll gesagt haben, dass die Pauke in Wien gespielt wird, und überall anders geschlagen wird. Ich würden den Klang der gängigen (also nicht Wiener) Pauke vor allem als sehr „durchpaukend“ bezeichnen. Insbesondere bei den Berliner Philharmonikern ist dies oft sehr gut zu hören.
Sehr schade an Thielemanns Aufnahme finde ich, dass man in der Sony-Aufnahme auf den Applaus aus dem Musikverein verzichtet hat. Ein echter Live-Mitschnitt dieser Aufnahme aus dem Musikverein ist tatsächlich über den Streaming-Dienst Idagio zu hören. Gerade die Stille zwischen den Sätzen, die bei Thielemann ja oft sehr ausgedehnt ist, ist noch mal was ganz Besonderes.
Johannes Fischer