Haydns L’Infedeltà delusa: musikalische Energieexplosion in München

Joseph Haydn, L’Infedeltà delusa,  Cuvilliés-Theater, München, 19. März 2022

Foto: Cuvillies_Theater_Muenchen, de.wikipedia.org

Cuvilliés-Theater, München, 19. März 2022

Joseph Haydn L’Infedeltà delusa

Bayerisches Staatsorchester
Giedrė Šlekytė   Musikalische Leitung

Cembalo   Michael Pandya

von Frank Heublein

An diesem Abend wird im Cuvilliés-Theater in München L’Infedeltà delusa von Joseph Haydn aufgeführt. Es ist die Premiere der alljährlichen Produktion des Opernstudios, der Talentschmiede der Bayerischen Staatsoper. Alle Sängerinnen und Sänger des Abends sind in ihrer ersten Spielzeit im Opernstudio. In bester Tradition steht die Dirigentin Giedrė Šlekytė erstmals einer Neuproduktion der Bayerischen Staatsoper in München vor. Denn als „musikalische Assistentin“ von GMD Vladimir Jurowski, so ihre offizielle Bezeichnung, ist die Opernstudiopremiere ihre Produktion.

Wie irritierend für mich ihre Bezeichnung ist, zeigt die Litauerin Giedrė Šlekytė an diesem Abend. Joseph Haydn hat diese Oper für Schloss Esterháza komponiert. Das Orchester ist klein: je zwei Oboen, Fagotte, Hörner und Trompeten, Pauke, Cembalo und Streicher. Šlekytė entwickelt mit ihrem Orchester eine Wahnsinnspower. Energetisch aufgeladen vom ersten bis zum letzten Ton. Hochspannung. Stets präzise. Immer unter den Sängerinnen und Sängern und zugleich großartig präsent. Das Orchester, die Dirigentin erfüllen mein Ohr und Herz mit großem Vergnügen und Glücksgefühlen. Ich kann mich zu keiner Sekunde der Musik entziehen. Sie pinnt mein Ohr, meinen Körper auf den Sitz.

Die Sängerinnen und Sänger des neuen Opernstudiojahrgangs singen allesamt auf sehr hohem Niveau. Die Künstlerinnen und Künstler auf der Bühne sind ebenso wie das Orchester voller Energie im Gesang wie Spiel. Ihre stimmlichen Kraftreserven sind bemerkenswert. Insbesondere in den Momenten des vollen körperlichen Einsatzes. Leidenschaft fließt ihnen aus allen stimmlichen wie schauspielerischen Poren.

Sopranistin Jessica Niles singt Sandrina wie einen energetischen Vulkan. Klar, transparent, temperamentvoll, dabei exakt und kontrolliert etwa bei herausfordernden Oktavsprüngen. Fantastisch! Ihre Geliebte Nanni singt Mezzosopran Emily Sierra geschmeidig, weich voller Zuneigung und Liebe zu Sandrina. Sopran Jasmin Delfs singt Vespina, die dritte der verschworenen Internats-„Schwestern“. Warm und rund, der Rolle entsprechend verschmitzt, voller kecker Energie.

Die hervorragenden Einzelstimmen – einen Chor gibt es nicht – harmonieren wunderbar in den Duetten und Ensembleszenen. Etwa im ersten Akt, wenn Nanni Vespina des Liebesverrats bezichtigt. Spannungsgeladene Harmonie. Heiße Sehnsucht. Wut. Fulminant und dramatisch ist die eruptive Kraft in der Schlussszene des ersten Aktes. In der rebellieren die Internatsmädchen, setzen den Internatsleiter Filippo, der auch Sandrinas Vater ist, Nencio und die Mutter Oberin fest.

Filippo singt Tenor Armando Elizondo. Er sorgt gleich zu Anfang dafür, dass die Eindringlichkeit des Stücks tief, ergreifend und dramatisch ist. Das Rezitativ mit seiner Tochter Sandrina und seine anschließenden Arie sind sehr eindrucksvoll. Er verbietet Sandrina den Umgang mit Nanni und oktroyiert Ihr Nencio als Gatten auf. Eiskalte männliche Macht im Gesang wie im genauso eindrucksvollen Spiel. Er zerrt an Sandrinas Haaren. Schubst sie durch die Gegend, nimmt ihr den Atem mit einem Kissen. Rabiat. Rücksichtslos. Der Herr im Haus hat alle Macht. Seine Stimme klingt rollengerecht streng, aggressiv, herrisch, dominant, kalt. Mich beeindruckt der volle schauspielerischer Einsatz der beiden. Zugleich behalten sie stets die stimmliche Kontrolle bei aller impulsiven handgreiflichen Auseinandersetzung.

Tenor Joel Williams Nencio ist gegenüber Filippo emotionaler angelegt. Seine Stimme ist im Vergleich zu Filippo wärmer, männlich von Testosteron gesteuert emotionaler. Etwa wenn er im zweiten Akt seine große Schadenfreude auf Filippo heraussingt.

Stimmlich finde ich den Gegensatz der männlichen und weiblichen Rollen eindrucksvoll. Diese werden inszenatorisch besonders im ersten Akt sichtbar. Anfangs die verschworene Herzlichkeit der Mädchen untereinander, funkensprühende verzweifelte Eifersucht bei Nanni und Vespina. Dagegen die geradezu gockelhafte Dominanz bei Nencio oder die pure patriarchalische Macht des Filippo.

Die Inszenierung der Regisseurin Marie-Eve Signeyrole wagt im Sinne des Komponisten viel. Denn wenngleich Haydn eine Burleske schrieb, so ist die negative Darstellung und Überwindung männlicher Macht am Hofe der Esterhazys ein Statement Haydns aufklärerischer Gedanken. Diesen Faden spinnt das inszenierende Team weiter, transponiert das Thema in die Nähe zur Gegenwart. Verortet die Handlung in ein Mädcheninternat im Jahr 1955. Verändert die ursprüngliche Bassrolle Nanni zum Mezzosopran. Adoleszente Mädchen in einer verschworenen Gemeinschaft und zugleich in einer restriktiv kontrollierten Umgebung.

Das wird über die Erzählerin und Filmerin, eine der Internatsmädchen ohne Gesangsrolle, klar gemacht. Ähnlich wie bei Castorfs Inszenierungen weiß ich auch an diesem Abend nie wohin schauen, aufs Video oder auf die Bühne selbst? Die Angst, dass mir Entscheidendes entfleucht, bereitet mir Kopfzerbrechen.

Im ersten Teil gelingt die Uminszenierung sehr gut. Die Musik ist hochdramatisch, kein Hauch von Komödie. Das passt. Doch die Verbindung vom ersten zum zweiten Akt hakt. Dass sich aus dem Aufstand der Internatsmädchen eine Intrige entspinnt, mit der Internatsdirektor Filippo hereingelegt werden soll? Die fingierte Doppelheirat! Welche Handlungsebene ist das? Entspringt der 2. Akt der Vorstellung gar nur der Imagination der Vespina? Denn die parallele nicht gesanglich, sondern durch Videotagebucheinträge der Erzählerin vermittelte Handlung läuft auf ein tragisches Ende hinaus. Sandrina liegt tod darnieder. Hat sie sich umgebracht aus Verzweiflung? Nanni nicht bekommen zu können, anstatt dessen Nencio heiraten zu müssen? Das bleibt für mich im tiefen Dunkel des Handlungsunklaren. Hier klappt die Uminszenierung nicht für mich. Die konkreten Handlungsteile funktionieren zwar im Rahmen der einzelnen Aktion in der Librettovorgabe. Doch das alles zahlt für mich nicht ein auf das große Ganze, welches ich sinnhaft zu erfassen suche.

Musikalisch klappt die Transponierung exzellent. Sie wird besorgt von Richard Whilds. Ich ignoriere die Handlungsverwirrungen des zweiten Akts, tief versunken in der musikalischen Darbietung, getragen, begeistert, in den Bann gezogen.

Was für ein toller Opernstudiojahrgang. Auf die weiteren Auftritte dieser Sänger und Sängerinnen freue ich mich sehr! Persönlich erliege ich ganz besonders der gesanglichen emotionalen Wucht und dem unbedingten kraftvollen Spiel der Jessica Niles. Voller Einsatz! In mir haben Sie einen Fan gewonnen Frau Niles. Wie auch Sie, Frau Šlekytė. Ihre Hand führt diesen Abend, macht ihn zum herausragenden musikalischen Ereignis.

Frank Heublein, 20. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

Programm

L’Infedeltà delusa von Joseph Haydn

Besetzung

Musikalische Leitung   Giedrė Šlekytė

Inszenierung und Videokonzept   Marie-Eve Signeyrole

Bühne und Kostüme   Fabien Teigné

Licht   Lukas Kaschube

Video   Laurent La Rosa

Dramaturgie   Leyli Daryoush, Corinna Jarosch, Katharina Ortmann

 

Vespina            Jasmin Delfs
Nanni                Emily Sierra
Sandrina          Jessica Niles
Filippo              Armando Elizondo
Nencio               Joel Williams
Il padre di Nencio Andrew Gilstrap

Sprechende und stille Rollen

Erzählerin/Live-Kamera  Céline Baril

Mutter Oberin   Tatjana Smutna

Bewohnerinnen des Internats   Lena Kühn, Matilde Romagnoli, Dorothea Schofield, Emily Schofield

 

 

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