Touristen verhöhnen Beethovens Messe im Michel

Missa solemnis, Ludwig van Beethoven
St. Michaelis, Hamburg, 29. Oktober 2016

Können Sie sich vorstellen, dass zwei Menschen während einer Aufführung der Missa solemnis im Hamburger Wahrzeichen St. Michaelis Tränen lachen? Es klingt wie ein schlechter Scherz, ist aber bittere Wahrheit: Zwei Touristen aus Italien haben in Reihe 29, Platz 1 und 2, zur Eröffnung der Bach-Wochen während des himmlischen Sanctus zehn Minuten lang gelacht. Der etwa 30 Jahre alten Frau kamen vor Erheiterung gar die Tränen, der gleichaltrige Freund musste nach Luft schnappen. Erst das couragierte Eingreifen eines 50 Jahre alten Besuchers, der dem Italiener anzeigte, ob er noch ganz richtig im Kopf sei, brachte die beiden erheiterten Zuhörer zur Ruhe.

Es war ein Trauerspiel: Neben den beiden Hamburg-Touristen aus Italien saß ergriffen ein etwa 75 Jahre alter Herr. Er lauschte der Jahrtausend-Komposition van Beethovens zutiefst entrückt – wie so viele Besucher im „Michel“, die vor Gerührtheit ob der unglaublichen Schönheit der Komposition inne hielten, die andächtig schwiegen, die ob der Göttlichkeit dieses vielleicht bedeutendsten Oratoriums immer wieder warme Gefühle der Rührung und des Mitgefühls für die himmlischen Klänge verspürten.

Der Herr war anscheinend zu schüchtern, die beiden Klassik-Rüpel in die Schranken zu weisen. Manche Besucher mögen sich gefragt haben, ob die Italiener auch bei einer heiligen Messe oder einem Requiem im Vatikan so ein kindisches Benehmen an den Tag gelegt hätten. Ja, wenn die Unflätigkeit, die absolute Respektlosigkeit den Mitmenschen und dem Werk gegenüber, das eigene Sich-Wichtig-Nehmen wenigstens während einer etwas lauteren Tutti-Stelle der Meisterkomposition zu vernehmen gewesen wäre. Dann wäre es immer noch ein unfassbarer, unmöglicher und völlig unverständlicher Fauxpas gewesen, hätte aber zumindest nicht in so hohem Maße die anderen Zuhörer gestört. Aber nein, die Freudentränen flossen während einer der schönsten und andächtigsten Stellen der Musikliteratur: dem Benedictus im Sanctus mit seinem – normalerweise – überirdisch klingenden Violinensolo.

„Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen“ – so hatte Ludwig van Beethoven sein 1824 vollendetes, letztes großes Chorwerk überschrieben. Es endet mit den Worten „dona nobis pacem“ – „gib uns Frieden“; Beethoven hat damit die Bitte um den inneren und äußeren Frieden gemeint.

Stille und Frieden hatte auch der Vertreter des Veranstalters, der Konzertkasse Gerdes, vor Beginn des Konzertes angemahnt. Mit für Konzertsäle und Kirchen außergewöhnlich klaren, ja scharfen, Worten hatte er – leider nur auf Deutsch – gefordert, Handys abzuschalten, während des Konzertes keine Nachrichten zu verschicken und nicht zu fotografieren – er habe in der Vergangenheit „schlechte Erfahrungen“ diesbezüglich gemacht und bitte um Verständnis für die deutlichen Worte.

Dass zwei zivilisiert ausschauende Menschen während einer Messe in Gelächter auszubrechen in der Lage sind, das hatte der Veranstalter sicherlich nicht im Sinn. Dass diese beiden Banausen mit ihrem Gelächter die Qualität des Konzertes bedachten, davon ist nicht auszugehen. Obgleich hier leider – trotz der superben Musik, die erstmals am 24. März 1824 in St. Petersburg aufgeführt wurde – einiges im Argen lag.

Schwach kamen in weiten Passagen die Männer des Chores St. Michaelis zur Geltung. Nur 26 Tenöre und Bässe, viele davon älteren Semesters, hatte der Dirigent Christoph Schoener aufgeboten – bei über 50 Sopranen und Altistinnen. Die Folge war, dass vor allem die Bässe in zahlreichen Tutti-Stellen kaum bis gar nicht zu hören waren. Aber auch die Tenöre blieben recht blass. Bei dieser Besetzung war es kein Wunder, dass die Frauen stimmlich eindeutig dominierten.

Die slowakische Sopranistin Simona Saturová begann das Kyrie im ersten Satz wunderbar lyrisch und ergreifend – ihre warmen, unter die Haut gehenden Anfangstöne waren die berührendsten Takte des Werkes. Vom Solistenquartett stach sie ganz klar durch Brillanz und Hingabe hervor. Saturová tritt regelmäßig am Nationaltheater Prag auf und wird in Deutschland ab April 2017 auch an der Sächsischen Staatsoper in Dresden als Konstanze in „Die Entführung aus dem Serail“ von Wolfgang Amadeus Mozart zu hören sein.

Der Tenor Werner Güra hat eine sehr schöne, lyrische Stimme – allein, die war im „Michel“ nur mit angezogener Handbremse zu hören. Mit etwas mehr Leidenschaft hätte der gebürtige Münchner das Kircheninnere von St. Michaelis durchaus erfüllen können. Da geht wirklich mehr im „Michel“.

Unauffällig blieb die im oberbayerischen Bad Tölz geborene Mezzosopranistin Barbara Hölzl. Sie blieb recht blass und schien sich auch im höheren Register ein wenig zu schonen. Im tieferen Register fehlte ihr das Volumen. Ihr mangelte es wie Güra zu Beginn der Bach-Wochen an der bedingungslosen Hingabe beim Singen.

Mit resonanzreicher Stimme, Leidenschaft und angenehmer Tiefe überzeugte hingegen der Bass Christof Fischesser, von 2012 bis 2015 Ensemblemitglied am Opernhaus Zürich. Er hat im Juli einen wunderbaren Veit Pogner in Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ an der Bayerischen Staatsoper in München gegeben. Auch sein Heinrich der Vogler in Wagners „Lohengrin“ während der Münchner Opernfestspiele war umwerfend. Im Juni 2017 ist er als Fasolt in Wagners „Rheingold“ unter dem Dirigat Thomas Hengelbrocks im Festspielhaus Baden-Baden zu hören.

Gut eingespielt und fast fehlerfrei musizierte auf Originalinstrumenten das Orchester Concerto con Anima, das 2007 von der Geigerin Ingeborg Scheerer und dem Bratschisten Andreas Gerhardus ins Leben gerufen wurde. Zu hören war eine sehr gute sensible Begleitung des Chores und der Solisten. Gänzlich uninspiriert geriet aber das Violinen-Solo der Konzertmeisterin im Benedictus. Der Name von Concerto con Anima soll das erste Anliegen des Orchesters ausdrücken: das „Beseelte“ in der Musik. Genau dieses Beseelte, dieses etwas Verrückt-Göttliche des berühmten Violinen-Solos kam in keiner Weise zum Ausdruck. Das geht mit mehr Leidenschaft und Hingabe.

So bekam die Missa solemnis, die Beethoven als sein „größtes und gelungenstes Werk“ bezeichnete, nur leisen und kurzen Beifall.

Die Bach-Wochen 2016 dauern noch bis zum 23. November 2016.

Andreas Schmidt, 29. Oktober 2016
klassik-begeistert.de

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