Spannende Antike begeistert mit einem Sprung in eine unabsehbare Zukunft…

Opera Incognita: „AKHNATEN“ von Philip Glass  Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, München, 16. September 2022

Fotos © Aylin Kaip

Opera Incognita: „AKHNATEN“ von Philip Glass 

Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, München, 16. September 2022

von Dr. Klaus Billand

Diesmal hatte sich nach dem erfolgreichen „Liebesverbot“ von Richard Wagner im Münchner Sugar Mountain die Opera Incognita (Merker 11/2021) unter der Leitung von Andreas Wiedermann eine besonders anspruchsvolle Aufgabe gestellt. Man hatte sich das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst München ausgesucht, um dort die dreiaktige Oper von Philip Glass „Akhnaten“, also „Echnaton“, in der Kammerversion von Timothy Sexton aufzuführen. Allerdings nicht in den Ausstellungsräumen selbst, sondern in einem schmucklosen großen Versammlungsraum mit grauen Betonwänden. Das erwies sich für die Dramaturgie der Aufführung aber von Vorteil, weil es eine viel stärkere Fokussierung der einzelnen Charaktere sowie der Chor- und Tanzgruppen ermöglichte, in direkter Nähe zum Publikum, das nur etwa drei bis vier Meter vor der Handlung saß, die über den ganzen Abend mit einer Pause wie eine Prozession an ihm vorüberlief. Aylin Kaip schuf Bühnenbild, Ausstattung und Kostüme, die in hellen Farben mit entsprechenden Kopfbedeckungen an die  Pharaonen-Zeit erinnerten. Jan-Robert Sutter war für das dramaturgisch geschickt eingesetzte Licht verantwortlich. Die musikalische Leitung hatte Ernst Bartmann.

Ziel und Leitidee von Opera Incognita ist es, außergewöhnliche Opern aufzuführen und diese sowohl einem etablierten als auch einem jungen Publikum zugänglich zu machen. Die gespielten Werke sollen eine szenische und musikalische Herausforderung darstellen. Der Einstieg erfolgte 2005 mit der „Armide“ von Chr. W. Gluck. Das Besondere an den Inszenierungen ist die enge Zusammenarbeit des musikalischen Leiters und des Regisseurs: Andreas Wiedermann und Maestro Ernst Bartmann sind bei den Proben anwesend und studieren die Stücke gemeinsam ein. Dies führt zu einer stärkeren Symbiose zwischen Musik und Inszenierung und stellt eine Vorgehensweise dar, die an etablierten Häusern nicht zu realisieren wäre. Die größtenteils noch recht jungen und unbekannten Akteure sind meist Absolventen der Musikhochschulen. Sie bekommen die Möglichkeit, Erfahrungen mit großen Bühnenwerken zu sammeln und sich dadurch die Tür zu weiteren namhaften Projekten zu öffnen. Wiedermann bringt alle Sprech- und Theatersparten von Boulevard bis Dramatik, von Musical bis Oper, auf die Bühne und lieferte bisher über einhundert Regiearbeiten an deutschen Theatern und in eigenen Kompanien, darunter die Opera Incognita.

Fotos © Aylin Kaip

Und so war es auch wieder an diesem Abend. Überwiegend junge bis sehr junge Akteure führten die Glass-Oper „Akhnaten“ mit ihrer minimal music auf, die 1984 in Stuttgart uraufgeführt wurde und nach „Einstein on the Beach“ und „Satyagraha“ der letzte Teil einer großen Portrait-Trilogie von Philip Glass über Albert Einstein, Mahatma Gandhi und Echnaton ist. Glass erzählt in chronologischer, aber vollkommen assoziativer Bildfolge in 12 Bildern Stationen aus dem Leben Echnatons, der um die Mitte des
14. Jahrhunderts v. Chr. mit dem Aton-Kult die Einführung eines religiösen Staatsmonotheismus versuchte. Wie im Programmheft erläutert wird, weisen die einzelnen Tableaus keine echten Spielszenen, sondern eher zehnminütige „Themenparks“ über Aufstieg und Fall des Sonnenkults aus. Die Texte stammen unter anderem aus Pyramidenschriften, ägyptischen Lesebüchern und dem legendären Totenbuch, aus den sog. „Amarna“-Briefen und dem von Echnaton verfassten Sonnenhymnus.

Irgendwie passt die triste graue Betonwand auch zur gleichwohl immer wieder interessanten, trotz ihrer hypnotisch-repetitiven und vielleicht gerade deshalb auch einnehmenden minimal music von Philip Glass. Zu Beginn erleben wir die Kindheit von Amenophis IV., die enge Beziehung zu seinem Vater Amenophis III. und dessen abrupten Tod, womit der Junge mit nur 15 Jahren schon den Thron besteigen muss, gegen seinen Willen, wie man hier sieht. Jacob Henzler spielt den jungen Echnaton sehr engagiert und überzeugend. All das ist dramaturgisch sehr schlüssig intensiv in der Inszenierung von Andreas Wiedermann dargestellt. Ein erster konkreter Höhepunkt ist die Krönung des 15-jährigen Amenophis IV., der vom jungen südkoreanischen Countertenor Kiuk Kim gesungen wird. Kim verleiht dem kommenden Echnaton eine ganz besondere Aura und mit seinem Counter-Tenor große vokale Qualität. Eindrucksvoll zeigt Wiedermann die Intensität der Unterwerfung des Volkes unter dem neuen Amon-Kult. So werden in einer langen Prozession Frauen auf allen vier Beinen an Leinen geführt wie Hunde. Der 35-köpfige Chor der Opera Incongnita dokumentiert nicht nur hier seine kraftvolle sängerische Gestaltung.

Fotos © Aylin Kaip

Es folgt eine Hymne von Echnaton, seiner neuen Hauptfrau Nofretete und seiner Mutter Teje, mit der er ein Kind gehabt haben soll und die die einzige gewesen sein soll, mit der er geschlafen hat, wie einem Aufsatz von Nagib Machfus zu entnehmen ist, den sie aus den Augen von Taduchipa erzählt, einer Tochter des Königs von Mitanni, der der treueste und aufrichtigste Freund von Ägypten war. Taduchipa wurde mit 15 Jahren von Amenophis III. geheiratet und gehörte mit dessen Tod als Mitglied des Harems zum väterlichen Erbe Amenophis’ IV. Die Mezzosopranistin Caroline Ritter, die schon über 30 Partien singt, darunter Amneris, Carmen und Hänsel, Adriano und Orlovsky, verleiht der Nofretete eine klangvolle und tragende Stimme. Dilay Girgin, eine türkische Koloratursopranistin, singt die Teje mit beachtlicher vokaler Intensität. Nachdem sie mit einer Rolle aus „Orpheus und Euridice“ in den Niederlanden debutierte, ist sie auch schon als Musetta, Zerlina, Yniold und in der jüngeren Vergangenheit auch mit der Königin der Nacht, Violetta, Gilda, Lucia, Elvira und Olympia unterwegs. Eine gute Karriere bahnt sich hier an, wie bei manchem anderen an diesem Abend. Schließlich werden mit einem langen Seil und vereinten Kräften die Säulen des alten Amon-Tempels spektakulär eingerissen und Amenophis IV. zu Echnaton gekrönt. Weiters beeindrucken Konstantin Riedl als Haremhab, der Brasilianer Robson Bueno Tavares als Aye, der Chinese Jinjian Zhong als Hoherpriester des Amon und Clemens Nicol als Amenhotep.

Nach der Pause kommt eine rituelle Vermählung Echnatons mit Nofretete, unterstrichen durch seine künstliche Befruchtung von sieben Frauen des Harems stellvetrend für seine Frau, in seltsam wirkenden medizinischen Operationen – ein nicht gerade erbaulicher Moment der Inszenierung. Die Israelin Rotem Weissman zelebriert sodann mit einem atemberaubenden Tanz die Einweihung der von Echnaton erbauten Stadt Achet-Aton im Amarna-Tal. Weissmann ist Choreografin, Performerin und Tänzerin und hat sich bei diversen israelischen und internationalen Tanzfestivals hervorgetan. Hymnisch predigt Echnaton sodann seinen Getreuen den Aton-Kult, womit Kiuk Kim die exzellente Qualität und Variabilität seines Counter-Tenors einmal mehr unter Beweis stellt. Alle gehen vor ihm devot auf die Knie, ein starkes Bild der Inszenierung! Wir erleben danach die Geburt der sechs Töchter von Echnaton und Nofretete, symbolisiert durch schimmernde Glaskugeln. In einer grausam-intensiv choreografierten Schlacht zeigt Wiedermann anschließend die Besiegung des Heers von Echnaton und die Einnahme von Achet-Aton. Die einstige Sonnenstadt ist – wie so oft in den ägyptischen Dynastien mit dem Wechsel des Pharaos oder seiner Besiegung – dem Verfall preisgegeben.

Fotos © Aylin Kaip

Nun kommt ein dramaturgisch hochinteressanter und überbordend phantasievoller Sprung in die Gegenwart und eine unabsehbare Zukunft! Wiedermann lässt Echnaton und seine Sippe als ruhelose Phantome durch eine viel später liegende und ihnen damit fremde Epoche wandern. Alles ist uns Zuschauern bekannt, da es unsere Zeit ist. In auf die Betonwand geworfenen Lichtzügen sehen wir zum Beispiel, dass Donald Trump in zwei Jahren der nächste Präsident der USA werden wird… Aber dann verschwinden die Grenzen der Zeit, und wir sehen in den Texten Geschehnisse der näheren und sehr fernen Zukunft. Auch Verwirrendes, nicht für möglich Gehaltenes – derzeit zumindest. Am Ende steht da nur noch ein Jahr, etwa 2387 und ein Buchstabe statt eines ganzen Wortes, etwa ein H. Es ist eben unabsehbar, was in ferner Zukunft geschehen könnte. Aber der link zur Antike des Echnaton über die heutige Zeit und ihre Besorgnis um die Zukunft ist nahezu genial! Natürlich kommen auch kleine Roboter zum Einsatz, die der kleine Amenophis, noch bevor er zu Echnaton wurde, auf dem Betonboden platziert.

Ernst Bartmann vermag mit dem Orchester, welches ausschließlich aus Keyboards und Schlagwerken besteht, mit beeindruckender Intensität und Ausdauer die sich immer wiederholenden und sich nahezu doch – fast unmerklich – verändernden Klanggirlanden von Philip Glass zu interpretieren. So ergab sich ein starkes Spannungsfeld zwischen dem abseits im Hintergrund sitzenden Orchester und dem Bühnengeschehen. Andy Lutter war für Keyboard und Klanggestaltung verantwortlich.

Wieder einmal hat die Opera Incognita mit einem relativ unbekannten Stück einige Furore gemacht. Und Philip Glass kam mit seiner minimal music einmal wieder zu Gehör, was immer zu begrüßen ist.

Klaus Billand www.klaus-billand.com  5. Oktober 2002
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

 

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