Musikvermittlung im Kindesalter © Facebook.com
Im Sommer, als ich ein kleines Kind war, ist meine Mutter mit mir gerne an den Westerländer Strand gegangen. Dort, auf der Kurpromenade, in der sogenannten Musikmuschel, wurden, wie ich es heute nennen möchte, Klassik-Hits gespielt. Seit vielen Jahren von der Camerata Budapest, geleitet von Zoltán Kontra. Wahrscheinlich ist damals meine Liebe zur klassischen Musik wachgeküsst worden. Besonders schön war, dass Kinder das Kurorchester für einige Momente dirigieren durften. So begeistert man den Nachwuchs! Nun soll Schluss damit sein, der Insel Sylt Tourismus-Service (ISTS) plant fortan ohne die Camerata. Das ist nicht gut, findet auch der ehemalige Solo-Cellist der Münchner Philharmoniker, Stephan Haack, und hat gleich mal die Sylter Kurkonzert-Petition initiiert. Selbst die BILD-Zeitung berichtet.
Jörn Schmidt im Gespräch mit Stephan Haack und Zoltán Kontra
klassik-begeistert: Was hat Sie nach Sylt verschlagen, und wann war das?
Zoltán Kontra: Ich war bereits 1982 Musiker in der Camerata, damals noch auf Borkum und geleitet von Tamás Benedek. Dann habe ich gut 20 Jahre lang in Deutschland gelebt und gearbeitet. 2004 bin ich aus meiner Heimat Ungarn in das Orchester von Tamás zurückgekehrt, das seinerzeit schon auf Sylt residierte. Nach dem Tod von Tamás und seiner Frau habe ich die Leitung der Camerata übernommen. In Deutschland habe ich übrigens in verschiedenen Formationen fast alle Genres gespielt: Salonmusik, Jazz, Tanzmusik und Gospelchor. Ich habe Opernsänger begleitet und klassische Konzerte mit renommierte Solisten gespielt, war aber auch Barpianist in einem Hotel und Inhaber eines Musikfachgeschäfts und einer Musikschule. Das waren wichtige Erfahrungen in meinem Leben.
klassik-begeistert: Ich war zuletzt als Kind bei den Kurkonzerten, die waren damals bis auf den letzten Platz besucht und wir Kinder waren begeistert. Wie ist es heute?
Zoltán Kontra: Da hat sich nichts geändert, außer dass viele dieser Kinder jetzt erwachsen sind, selber Kinder haben und immer wieder zu uns zurückkehren. Wir gewinnen immer mehr Besucher, während die Anzahl der Übernachtungen auf Sylt seit Covid zurückgeht.
klassik-begeistert: Ich hätte vermutet, im Sommer trifft man Sie und Ihre Frau in Bayreuth. Oder am Gardasee. Warum urlauben Sie ausgerechnet auf Sylt?
Stephan Haack: Als Münchner lieben meine Frau und ich sehr den Kontrast, das raue Klima, die frische Luft und das Meer mit seiner bewegten Brandung und seinen wunderbaren Stränden! Außerdem fahren wir gerne mit dem Fahrrad je nach Gegenwind nach Norden, Osten oder Süden. Ihre Frage nach Bayreuth beantwortet sich leicht… trotz Rentendasein ist das ganze Jahr immer noch erfüllt mit Musik – aktiv unterrichten, Kammerkonzerte spielen und Konzerte und Oper besuchen. Da muss man nicht unbedingt zu diesen speziellen Festspielen.
klassik-begeistert: Hatten Sie schon mal Gelegenheit, das Kammermusikfest Sylt zu besuchen?
Stephan Haack: Dieses Jahr hat sich das zeitlich leider nicht ergeben. Wir haben die Rezensionen darüber verfolgt und fanden den Fokus auf neue Kompositionen und Uraufführungen sehr gut. Ebenso, dass junge Künstler von der Stiftung Musikleben unterstützt werden und die Konzerte bestreiten. So haben wir mit Freude in den letzten Jahren Kontakt mit ehemaligen Studenten z.B. in der Keitumer Kirche und im Kaamp Hüs genossen.
klassik-begeistert: Genießen Sie Ihren Ruhestand, oder treten Sie noch öffentlich auf? Mir kam gerade spontan in den Sinn, Sie könnten ja mal beim Kammermusikfest Sylt auftreten…
Stephan Haack: Ich genieße meinen Ruhestand vom Orchesterdienst schon, aber nach wie vor unterrichte ich viel, konzertiere in Kammermusikformation, u.a. mit meiner Frau, der Pianistin Michaela Pühn. In der restlichen Freizeit genieße ich das reichhaltige Angebot in München von Konzert und Oper. Die Frage nach dem Kammermusikfest hatte sich leider früher nicht gestellt. Oft bin ich auch der Meinung, dass die jungen Musiker diese Plattform bekommen sollten.
klassik-begeistert: Mich haben damals die Ungarischen Tänze begeistert. Was sind heute die Evergreens, auf die die Kids abfahren?
Zoltán Kontra: Es sind witzige Musikstücke, beispielsweise Fiddle-Faddle von Anderson, Der Fluch der Karibik, ein flotter Marsch wie Stars and Stripes. Oder eben ein richtiger Csardas. Auch ruhige Stücke funktionieren, Lili-Marlen oder Il Silenzio möchte ich hier nennen. Wobei Kinder sich grundsätzlich doch eher für schnelle, virtuose Stücke begeistern. Weil sie sich da bewegen, mittanzen können. Daher haben wir je nach Tageszeit andere Programme… Wir spielen Vormittags, Mittags und Abends.
Stephan Haack: Das ist ein sehr guter Punkt. Die Ernsthaftigkeit live gespielter Musik spüren, und dabei lernen, konzentriert zuzuhören. Dabei entsteht der erste, so wichtige hautnahe Kontakt zur symphonischen Musik. Dies gilt für alle Altersgruppen… nicht nur für die Kinder.
klassik-begeistert: Dürfen die Kinder heute immer noch ein Stück dirigieren, oder gehen Sie andere Wege der Musikvermittlung?
Zoltán Kontra: Mir ist wichtiger, dass Kinder handgemachte Musik erleben, auf richtigen Instrumenten. Aus diesem Grund dürfen Kinder nach dem Konzert auf die Bühne und die Instrumente anfassen. Sie glauben gar nicht, wie das die Kinder fasziniert. Da werden die Eltern einfach gezwungen, stehen zu bleiben.
klassik-begeistert: Wieso engagieren Sie sich für die Camerata Budapest? Sie haben mit Weltstars musiziert, man könnte meinen, so ein Kurkonzert, das ist nichts für Sie.
Stephan Haack: Dass ich als Mitglied der Münchner Philharmoniker mit allen Weltstars musizieren durfte, bedeutet nicht, das ich keine Kurkonzerte anhören möchte. Kurorchester gehören in Deutschland und vielen anderen Ländern seit eh und je zur Keimzelle der Orchesterlandschaft. Sie holen ihr Publikum an der Basis ab, ohne hohe Preise und sonstige Barrieren renommierter Konzertsäle/Opernhäuser. Die Programme sind genreübergreifend arrangiert und geben so dem Publikum einen kurzweiligen Einstieg. Die Camerata Budapest ist hier ein sehr gutes Beispiel und begeistert das Publikum von Vivaldi bis Filmmusik und besteht doch nur aus 16 solistisch tätigen Mitgliedern. Außerdem habe ich größten Respekt vor diesen Musiker/innen, die genauso professionell ausgebildet und engagiert wurden, wie ihre Kollegen/innen in den großen Sinfonieorchestern.
klassik-begeistert: Gibt es einen guten Austausch mit dem Sylter Kurdirektor, Herrn Peter Douven?
Zoltán Kontra: Nein, erst von Konzertbesuchern habe ich erfahren, dass man 2025 definitiv ohne uns plant. Obwohl ich die Verantwortlichen immer wieder um ein persönliches Gespräch gebeten habe. Als Stephan die Unterschriftensammlung initiiert hat, durfte ich bei Herrn Douven vorstellig werden. Seine Botschaft war, man müsse halt moderner werden…
Stephan Haack: Wir haben vergeblich versucht, Herrn Douven persönlich zu erreichen. Der Kontakt lief per Mail, einer seiner Mitarbeiter gab uns den Hinweis, dass nur ein klares Statement des Publikums den Kurdirektor umstimmen könne. Daher haben wir nach Absprache mit Herrn Kontra die Petition gestartet. Innerhalb von 3 Tagen kamen mehr als 1.100 Unterschriften zusammen. Ein klares Votum!
klassik-begeistert: Wenn es heißt, Ihr Kurkonzert-Format sei nicht mehr zeitgemäß. Was sagen Sie dazu?
Zoltán Kontra: Heutzutage scheint das ein Zauberwort für alles zu sein. Ist Grünkohlessen zeitgemäß, Kirmes oder das Oktoberfest? Soll man noch Volkstracht anziehen und den Maßkrug stemmen? Es gibt nicht die eine Antwort, aber ich sage: Traditionen wurden immer schon mit gutem Grund gepflegt. Das zu leugnen oder gar in Frage zu stellen, das wäre Quatsch.
Stephan Haack: Erneuerung darf auf keinen Fall bedeuten, einen so wichtigen Veranstaltungspunkt, wie Konzerte der Camerata Budapest, abzuschaffen. Das Motto der Petition war: Die Mischung macht’s – Shanty Chor, Beach Band, Memories, der sonntägliche Sundowner Rhythm & Beats Party und eben die Camerata Budapest.
klassik-begeistert: Soll die Kurpromenade eine günstiger zu bespielende, reine Feier-Meile werden?
Zoltán Kontra: Ja, ein Beach-Party bringt eben mehr Umsatz als wir…
klassik-begeistert: Wiederholt sich die Geschichte gerade?
Zoltán Kontra: Genauso ist es, seit 1879 findet Kurmusik in der Musikmuschel statt. Ab 1934 auch klassische Musik. Vor 80 Jahren spielte hier noch ein Symphonieorchester. Dann aber, 1974, hieß es: La musica è finita.
klassik-begeistert: Warum das?
Zoltán Kontra: Die Kurverwaltung kam zu dem Entschluss, dass derlei Musik nicht mehr zeitgemäß ist. Sie können das Wort für Wort auf der Website der Insel Sylt Tourismus-Service GmbH nachlesen.
klassik-begeistert: Damals gab es aber ein Happy End?
Zoltán Kontra: Ja, ich zitiere erneut die Website der Sylt Tourismus-Service GmbH: „Glücklicherweise trotzen die Bürger diesem Entschluss und stimmten für den Erhalt. So ist die Musikmuschel bis heute eine der bekanntesten Attraktionen der Insel Sylt.“
klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch, auf ein Wiedersehen bei den Kurkonzerten 2025!
Jörn Schmidt, 28. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Abschlusskonzert 12. Kammermusikfest Sylt klassik-begeistert.de, 2. August 2024
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Claude Frochaux Vorschau Kammermusikfest, 12. Juli 2024