Giacomo Puccini: Edgar
Schweizer Erstaufführung des Theaters St. Gallen im Rahmen der St. Galler Festspiele 29. Juni 2018 – Premiere
Von Charles E. Ritterband (Text und Foto)
Vor einer einzigartigen Kulisse – der gewaltigen Barockfassade der St. Galler Stiftskirche – fand die Premiere von Puccinis selten gespieltem Frühwerk „Edgar“, die zweite Oper und dessen erstes Meisterwerk, statt. Es ist Tradition bei den jährlich im Sommer abgehaltenen St. Galler Festspielen, dass auf dem Platz vor der Kathedrale musikalische Raritäten präsentiert werden, doch selten passte eine Handlung besser zu diesem Schauplatz, geht es hier doch um die Provokation der lasziven Außenseiterin, Freidenkerin und Verführerin mit dem so plastischen Namen Tigrana.
Sie steht – wie das Gegensatzpaar Carmen und Michaela – der biederen, rechtschaffenen und dem Held Edgar bedingungslos ergebenen Fidelia gegenüber. Ein Gegensatz, der nicht zuletzt an den Venusberg im „Tannhäuser“ von Richard Wagner erinnert. Auch der Name dieser Gegenspielerin weckt Assoziationen – da stand unverkennbar Beethoven mit seiner einzigen Oper „Fidelio“ Pate. Edgar ist hier mehr als nur eine Oper, mehr als nur ein Dilemma zwischen zwei gegensätzlichen Frauen, die einen unwillkürlich an die Konflikte aus Puccinis Leben denken lassen: Es ist eigentlich ein Mysterienspiel voller Allegorien, sehr passend an diesem einzigartigen Schauplatz.
Die Inszenierung des deutschen Regisseurs Tobias Kratzer zieht alle Register: Unterstützt von einem schier überwältigenden Großaufgebot an Chören – fünf an der Zahl – und Statisten werden starke Assoziationen geweckt: Auf einem Altar erinnert die Skulptur eines mächtigen Lammes an das Gemälde von Jan van Eyck, der „Anbetung des Lammes“ auf dem berühmten Genter Altar. Und wenn sich die Graskuppe auf der Bühne langsam hebt und sich die Tore zur Hölle öffnen, mit Rauch und Feuer, kriechen aus diesem Inferno die Gestalten aus Hieronymus Boschs Gemälde „Garten der Lüste“ hervor – faszinierender Höhepunkt dieser überaus aufwendigen Inszenierung. Die Gestalten in üppigen, fantastischen Kostümen – Klerus, Engel und riesige schwarze Vögel – schienen aus farbenprächtigen Illustrationen zu mittelalterlichen Bibeln und aus Albträumen zu stammen.
Die italienische Sängerin Tigrana (Alessandra Volpe) ist als Erscheinung geradezu atemberaubend – der Prototyp einer unwiderstehlichen Verführerin, die Selbstbewusstsein, Erotik und Freiheit verkörpert. Dies auch gesanglich: Ihr warmer, die riesige Bühne mühelos beherrschender Mezzosopran vereinigt sich im großen Duett harmonisch mit der reifen, kraftvollen Tenorstimme des Sizilianers Marcello Giordani. Gemeinsam zeigten sie eine Bühnenpräsenz, die die riesige Freiluftarena mühelos dominierte und gleichsam über die klerikal-sittenstrenge Welt, die hier porträtiert wurde, hinwegschweben liess. Weniger überzeugend der Sopran der Fidelia von Katia Pellegrino, die neben der charismatischen Figur der Tigrana mit ihren wunderschönen, anspruchsvollen und langen Solopassagen naturgemäß einen schweren Stand hatte.
Charles E. Ritterband, 30. Juni 2018, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung: Leo Hussain
Inszenierung: Tobias Kratzer
Ausstattung: Rainer Sellmaier
Licht: Michael Bauer
Choreinstudierung: Michael Vogel
Dramaturgie: Marius Bolten
Edgar: Marcello Giordani
Gualtiero: Michail Ryssov
Frank: Evez Abdulla
Fidelia: Katia Pellegrino
Tigrana: Alessandra Volpe
Avvoltoio: David Schwindling
Chöre: Chor des Theaters St. Gallen, Kinderchor des Theaters St. Gallen, Opernchor St. Gallen, Prager Philharmonischer Chor, Theaterchor Winterthur
Orchester: Sinfonieorchester St. Gallen