Strasbourg provoziert mit einer gewagten „Traviata"-Inszenierung

Giuseppe Verdi, La Traviata  Opéra national du Rhin, Strasbourg, 2. April 2025

Photos presse MR © Klara Beck

Die „Traviata“-Inszenierung der deutschen Regisseurin Amélie Niermeyer wirft einen vom Sessel – doch allmählich wird dem, gelinde gesagt schockierten Zuschauer klar, dass dem szenischen Schock-Effekt kluge Überlegungen zugrunde liegen.

Diese „Traviata“ ist ungewohnt – aber durch und durch stimmig (und erschreckend zeitgemäß).

Giuseppe Verdi, La Traviata
Oper in vier Teilen
Libretto von Francesco Maria Piave nach Alexandre Dumas dem Jüngeren.
Uraufgeführt am 6. März 1853 am Teatro La Fenice in Venedig.

Musikalische Leitung: Christoph Koncz
Orchestre national de Mulhouse

Choeur de l’Opéra National du Rhin

Neuinszenierung, Koproduktion mit der Opéra du Dijon

Inszenierung: Amélie Niermeyer
Bühnenbild und Kostüme: Marie-Alice Bahra
Licht: Tobias Löffler
Choreographie: Dustin Klein

Opéra national du Rhin, Strasbourg, 2. April 2025

von Dr. Charles E. Ritterband

Statt der gewohnten Eleganz der Pariser Halbwelt des 18. Jahrhunderts – denn in diese Ära musste Verdi diese ursprünglich aus triftigen biographischen Gründen für die eigene Zeit konzipierte Oper auf Anordnung der allgegenwärtigen Zensurbehörden verlegen – mit der das bürgerliche Personal mit der Pariser Demi-Monde in Violetta Valérys üppigem Boudoir in nahezu allen  anderen „Traviata-Inszenierungen“ zum  berühmten „Brindisi“ antritt, werden wir in Niermeyers Inszenierung in einen Betonkeller katapultiert, wo sich die knallharte Berliner Unterwelt ihren sexuellen Gelüsten (und Perversionen) hingibt.
Das ist das kompromiss- und schonungslos realistisch dargestellte Milieu, in dem die als Tuberkulosekranke – heutzutage wäre es wohl Aids – todgeweihte Prostituierte Violetta ihre Klientel rekrutiert.

Photos presse MR © Klara Beck
Techno-Hölle statt elegantem Pariser Salon

Die Regisseurin Amélie Niermeyer gibt im Programmheft zu Protokoll, sie habe sich „énormement“ über die Prostitution in unserer Zeit informiert: Sie hat keine Illusion darüber, dass die überwältigende Mehrheit der Prostituierten (oder „Escorts“, wie sie sich schönfärberisch zu nennen pflegen) ihr Metier aufgrund irgendwelcher, meist ökonomischer Zwänge ausübt – nur gerade fünf Prozent tun dies laut ihren Angaben aus freiem Willen. Niermeyer klagt Alfredo und erst recht dessen Vater an, das Leben dieser Frau durch ihr Verhalten verkürzt zu haben.

Sie weiß ganz genau, was sie mit dieser Inszenierung auf die Bühne des eleganten Straßburger Opernhauses bringt:

Es ist der immense, am 6. Januar 2003 eröffnete Berliner „Club“ namens „Berghain“ (eine Synthese aus Kreuzberg und Friedrichshain), der ehemalige Maschinenraum eines elektrischen Kraftwerks im stalinistischen Brutalo-Beton-Stil aus der einstigen DDR, aus dem das Eisenbahnnetz der DDR gespeist wurde. Angeblich bis zu 150 000 Personen tauchen jedes Wochenende in diese „Underground“-Amüsierhölle mit ihren verschiedenen Betongewölben für diverse musikalische Geschmäcker – von Techno bis zu Hard Rock und zweifellos keine barocke Kammermusik – und um ihre sexuellen Präferenzen auszuleben. Zugang zu den obskureren Räumlichkeiten ist nur aufgrund hochnotpeinlicher Gesichtskontrolle möglich.  Mobiltelefone müssen beim Eingang abgegeben werden, denn Fotografieren ist strengstens verboten.

In diesem unsäglichen Inferno also spielen sich, mit allen realistischen Zutaten, der erste und der dritte Akt ab, die Drehbühne schwenkt bisweilen etwas unmotiviert (oder unabsichtlich) mal nach links, mal nach rechts.

Erstaunlicherweise passen die ekstatischen Bewegungen der Techno-Tänzer in der Berliner Underground-Discothek verblüffend präzise zu den Rhythmen der Musik Verdis im Brindisi des ersten Aktes.

Die Illusion der Landidylle

Konsequenterweise ist auch das idyllische Landleben, in das sich Violetta und Alfredo im zweiten Akt in ihrer romantischen Liebe flüchten, nur Illusion und Kulisse: Statt eines Bühnenbildes stehen da lediglich ein paar weiße Korbsessel vor einer großen Reproduktion eines romantischen Landschaftsbildes von Richard Wilson (1713-1782) aus dem 18. Jahrhundert, genau jenem Jahrhundert in dem Verdi gezwungen war, die Handlung der „Traviata“ spielen zu lassen.

Und als Violetta dem Druck von Alfredos Vater nachgegeben hat und bereit ist, ihren Geliebten zu verlassen, kippt das große Bild um und offenbart die Illusion: die scheinbar idyllische Szene des 2. Aktes (Traviata und Alfredo in ihrem Landhaus) fand vor einer zweidimensionalen Kulisse, jener Reproduktion eines Gemäldes statt – jetzt wird klar, dass sich das alles in der tristen Atmosphäre jenes Betonbunkers abspielt, aus dem es für Violetta Valéry kein Entrinnen gibt.

Photos presse MR © Klara Beck

Auch der vierte Akt, die Sterbeszene, spielt sich hier ab. Anders als in anderen Inszenierungen stirbt hier Valéry nicht in den Armen des zurückgekehrten Alfredo sondern wandelt allein ins Licht – so wie vom Sterben zurückgekehrte immer wieder ihre Todeserfahrung schildern. So stimmig und konsequent das alles inszeniert ist: Man stolpert über die Figur der Annina, die hier keine Dienerin ist, sondern die (einzige) Vertraute der Protagonistin – sie verhält sich nicht wie eine Angestellte, sondern wie eine Freundin, die sich entsprechende Freiheiten herausnimmt.

Hervorragende Stimmen

Die Stimmen der drei Protagonisten glänzten durch ihre perfekte Musikalität: Die Traviata der italienischen Sopranistin Martina Russomanno mit bewegender fraulicher Tiefe und Präzision und der Alfredo des von den pazifischen Samoa-Inseln stammende Amitai Pati brillierte mit geschmeidigem tenoralem Schmelz. Der italienische Bariton Vito Priante in der Rolle des Giorgio Germont bot stimmlich sonore Tiefe und (von bürgerlichen Konventionen fehlgeleitete) väterliche Autorität, doch sein Auftreten war für einen Mann seiner so sehr betonten noblen Herkunft wohl etwas allzu impulsiv.

Schlussapplaus (Dr. Charles Ritterband)

Das Orchestre national de Mulhouse unter der souveränen Stabführung des österreichischen Dirigenten Christoph Koncz intonierte diese szenisch doch sehr außergewöhnliche „Traviata“ mit sehr viel Einfühlungsvermögen und großer Musikalität.

Das Publikum – keineswegs irritiert durch die doch sehr erschreckende Welt der Berliner Amüsierhölle Berghain – honorierte diese exzellente Aufführung mit anhaltendem Beifall und Jubel.

Die in Wien nahezu gewohnten Buhrufe blieben, zumindest in dieser Vorstellung, völlig aus.

Dr. Charles E. Ritterband, 27. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Violetta Valéry „La Traviata“: Martina Russomanno
Alfredo Germont: Amitai Pati
Giorgio Germont: Vito Priante
Annina: Ana Escudero
Dottor Grenvil:  Michal Karski

Albéric Magnard (1865-1914), Guercoeur Opéra du Rhin, Straßburg, 28. April 2024

Richard Wagner, Lohengrin Opera national du Rhin Strasbourg, Premiere, 10. März 2024

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