Foto: Thomas Egli (c)
Schleswig-Holstein Musik Festival,
Kieler Schloss, 16. August 2018
NDR Elbphilharmonie Orchester
Krzysztof Urbański Dirigent
Christian Gerhaher Bariton
Gustav Mahler
Adagio aus der Symphonie Nr. 10
Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“
Johannes Brahms
Symphonie Nr. 2 D-Dur
von Sarah Schnoor
Mit Robert Schumann hat das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) 2018 einen Künstler in den Mittelpunkt gestellt, der außerordentlich „romantisch“ ist. Nun wird an diesem hochkarätig besetzten Abend aber gar kein Schumann gegeben. Krzysztof Urbański leitet als erster Gastdirigent das NDR Elbphilharmonie Orchester, und schaut man sich seine Veröffentlichungen und vergangenen Konzerte an, wird das Faible für
(Spät-)Romantik recht schnell deutlich. So entfernt sich der Abend etwas vom Festivalprogramm, beginnt aber passend zu Urbański mit dem Adagio aus Gustav Mahlers unvollendeter 10. Symphonie.
Die homogen und warm klingenden Bratschen beginnen mit einer an Richard Wagners „Tristan und Isolde“ erinnernden Melodie, zu der auch die restlichen Streicher dazustoßen. Auch der schwierige Horn-Kaltstart ist sauber intoniert. Urbański nutzt die ganze Bandbreite der Dynamik und gestaltet spannungsreiche Pausen. Sein Gesichtsausdruck verrät ein Mitleiden, bis es nach den breiten Streicherpassagen typisch für Mahler ins Tänzerische übergeht. Das Orchester zaubert ein schillerndes Klangbild mit erstaunlich warm und flächig klingenden Streichern.
Wie auch in anderen Symphonien arbeitet Mahler mit Naturgeräuschen wie den vogelartigen Trillern, an denen die Holzbläser sichtlich ihren Spaß haben. Viele Passagen funktionieren über Steigerung, ein Anschwellen und den plötzlichen Abbruch, auf den schließlich ein Neubeginn folgt. Dieses unglaublich intensive Klanggebilde hält Urbański wunderbar zusammen. Während der harmonischen Steigerung in immer interessantere, dissonante Klänge hält die Solotrompete lange einen ohrenbetäubend lauten hohen Ton, der einer Dame im Publikum ein leicht empörtes norddeutsches „Na!“ entlockt. Herrlich! Kurz darauf erklingt ein unglaublich ruhiges Pianissimo in den Streichern, das den Raum verzaubert. Es wirkt, als stünde die Zeit still. Urbański interpretiert Mahler hochromantisch und schwelgt meist in der Musik, nutzt jede Klangfläche aus, das Orchester folgt ihm sichtlich und hörbar. Leider ist es am Schluss schwer, die Piccoloflöte leise genug zu halten – der Satz kann nicht ganz harmonisch im Piano ausklingen.
Nach diesem wirklich ergreifenden Beginn gibt es bereits so viel Applaus, dass Urbański ein zweites Mal rauskommen muss, bevor er nach kurzem Umbauen zusammen mit dem Ausnahme-Bariton Christian Gerhaher zurückkehrt. Dieser bringt seine Auswahl an Liedern aus Gustav Mahlers Zyklus „Des Knaben Wunderhorn“. Er beginnt mit dem „Lied des Verfolgten im Turm“. „Die Gedanken sind frei“ heißt es darin, die Töne auch, aber ein Durchkommen ist besonders am Anfang schwer. Die Orchesterbegleitung ist durch die Orchestrierung laut und umspielt die mittleren Frequenzen, die die warme Baritonstimme überlagern. Christian Gerhahers Stimme ist sofort unverwechselbar zu erkennen. Er spielt wenig mit Körper und Mimik, gestaltet alle Emotionen über verschiedene Stimmfarben und Intensität.
Im leicht schwingenden Liebeslied „Wer hat das Liedlein erdacht?“ wird sein Können viel besser deutlich. Geschmeidig und süßlich singt er die Melismen, die streicher- und holztypische Figuren imitieren. Auch das kleine „Rheinlegendchen“, begleitet von einem sehr zurückhaltenden Orchester, präsentiert er mit großer Leichtigkeit und beeindruckender Textverständlichkeit und Stimmkontrolle. „Wo die schönen Trompeten blasen“ verbindet die vorher schon besungene Liebe mit schroffem Militärklang. Sauber intonierte Holzbläser beginnen das intensive Lied, und als der Gesang einsetzt, kann man nur staunen. Die Stimme schwingt innerlich rund, ruhig und zart. Urbański tänzelt leicht dazu. An einigen Stellen fallen Gerhaher und das Orchester leider etwas auseinander. Begleitung ist an diesem Abend nicht Urbańskis größte Stärke.
Die Stimmung wird immer düsterer, und es folgt das wohl meistbesprochene Lied des Zyklus: „Revelge“ ist ein grausames Lied, das mit seiner Musik jedoch auch gegen den Krieg spricht. Sehr präzise Bläser eröffnen die Militärmusik. Ernst und gleichzeitig leicht singt Gerhaher das „Trallali, trallaley, trallalera“ des Soldaten. Besonders die aufsteigende Phrase ist durch eine Offenheit in den hohen Tönen eindrucksvoll.
Das durch Mahlers zweite Symphonie bekannte, sehnsuchts- aber auch zutiefst hoffnungsvolle „Urlicht“ bildet den Abschluss von Gerhahers Liederauswahl. Allein für seine Interpretation dieses Liedes lohnt es sich in dieses Konzert zu gehen! Es gehört für mich mit zu dem Schönsten, was Musik ausdrücken kann. „Der Mensch liegt in größter Not!“ Man glaubt ihm jedes Wort, und sein warmer, weicher, sehr innerlicher Gesang berührt direkt.
Nach einer erfolgreichen und viel beklatschten ersten Hälfte folgt nach der Pause Johannes Brahms. Lächelnd beginnt Urbański Brahms 2. Symphonie. Alle kommen langsam in den ersten Satz – Urbański, wie so oft auswendig dirigierend, genießt die Musik sichtlich. Auch hier klingen die Celli wieder sehr homogen. Als Meister der Dynamik und Phrasierungen gestaltet Urbański einen nie langweilig werdenden Brahms. Allerdings sind die Soli nur okay, und es ist etwas viel Show im Dirigat, sodass man die Musik auch nur angucken könnte. Dafür ist der Ausdruck des Orchesters sehr stark, die Intonation und Präzision dagegen nur gut. Übermäßige Punktierungen und starkes Absetzen prägen den bewegteren Teil des ersten Satzes.
Im zweiten Satz hat Brahms voll in die Ausdruckstasche gegriffen, und Urbański schöpft dies natürlich alles aus. Mit getragenen, breiten Celli entfaltet der Klangästhetiker große Flächen. Spannungsreich bleibt es immer, was auch daran zu erkennen ist, dass das Publikum in den Generalpausen absolut still ist.
Ruhig tänzelt beginnt der dritte Satz mit dahinplätscherndem Holz, bis die schnellen Streicher übernehmen. Urbański dreht die Lautstärke und das Tempo enorm auf, leider etwas zu schnell, weshalb es anfängt zu klappern. Man kennt das von Bildern. Wenn der Kontrast zu hoch eingestellt wird, wirkt es schnell unnatürlich. Dieses Problem hält sich auch im vierten Satz. Der Pole beginnt etwas zu schnell, das Orchester kommt am Anfang nicht ganz hinterher, findet sich dann aber rein. Sehr ausdrucksstarke Streicher im Fortissimo und ein klangschönes Pendeln im Holz entschädigen dann aber, und auch das Finale ist herrlich. Urbański feiert jegliche Steigerung – der Orchesterklang im Saal ist bis auf fehlende Tiefen (akustisch bedingt) sehr gut. Das Publikum ist begeistert und applaudiert ausgiebig. Trotzdem war die erste Hälfte präziser und ausgereifter im Orchester. Der Ohrwurm des Abends bleibt Gerhahers „trallali, trallala…“.
Sarah Schnoor, 17. August 2018, für
klassik-begeistert.de