Baiba Skride © Marco Borggreve
Nichts für schwache Nerven: Andris Nelsons, Baiba Skride und das Boston Symphony Orchestra erschüttern das Leipziger Publikum
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Violinkonzert Nr. 1 a-Moll op. 77; Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 („Das Jahr 1905“)
Baiba Skride, Violine
Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
Gewandhaus zu Leipzig, 16. Mai 2025
von Brian Cooper
Dieses Programm ist nichts für schwache Nerven. Es gibt ja einige Orchesterwerke von Dmitri Schostakowitsch, die unter die Haut gehen – vor allem, wenn sie so herausragend gut gespielt werden wie an diesem Abend in Leipzig. Hört man gleich zwei davon hintereinander, kann man es kaum fassen. Man ist einigermaßen erschüttert, geplättet, Ähnliches hört man hinterher auch von jenen, die man im Saal weiß, sowie von jenen Anderen, die man zufällig antrifft: Klar, dass ein paar von den üblichen Nasen hier rumlungern, die der Weltklasse hinterherreisen. (Nebenbei: Die Nase wird bei diesem außerordentlichen Schostakowitsch-Gipfel nicht gespielt.)
Die Elfte ist neben der Vierten und der Achten eine der drei zumindest für mich „gesichert sperrigen“ Sinfonien des DSCH. Der Zufall will es, dass genau diese drei Sinfonien zu Beginn des bereits jetzt sensationellen Festivals hintereinander erklingen – an drei aufeinanderfolgenden Abenden, versteht sich, alles Andere wäre medizinisch nicht zu verantworten.

Denn was bei der Elften abging, diesmal vom Boston Symphony Orchestra gespielt, war ähnlich physisch spürbar wie vor der Pause das 1. Violinkonzert. Das ist jenes 40minütige Werk, in dem die Geige fast immer zu tun hat – nicht zuletzt in einer fünfminütigen Kadenz, die es in sich hat, technisch wie emotional. Baiba Skride legte im ersten Satz, der fast durchweg leise zu spielen ist und von den ersten geheimnisumwitterten Takten in Celli und Bässen an faszinierte, einen Geigenton an den Tag, der schwer zu fassen war: schwebend, manchmal kaum hörbar, sehr in sich gekehrt. Das schien jedoch volle Absicht, und umso verzweifelter, umso schreiender förmlich, gerieten die wütenden Akkorde der Kadenz.

Der Kopfsatz klang morbide, die Streicher spielten nahezu vibratolos, der gesamte Satz schien wie eine kontaminierte karge Landschaft nach einer von Menschenhand herbeigeführten atomaren Katastrophe. Meinetwegen im Mondschein.
Und plötzlich kommt dann dieses merkwürdige Scherzo daher, mit dem dunklen Holz und den hier extrem scharfen Horneinwürfen. Perfekt geprobt und nahezu perfekt dargeboten, begann dieser Satz jedoch in einem Tempo, dass man einfach nicht spielen kann, was eine kleine Verlangsamung zur Folge hatte. Dies hatte keinerlei Auswirkungen auf die Intensität.

Als wäre das nicht genug, folgt dann diese umso langsamer gespielte Passacaglia. (Nelsons scheint Gefallen an Kontrasten zu finden.) Die vier Hörner rufen zum Weltgericht. Und wieder ist da dunkles Holz, plus Tuba, in einem Choral: Weltklasse. Baiba Skride legt einen klagenden Ton an den Tag, der insbesondere in den hohen Oktaven ungemein anrührt.
Kurz vor der Kadenz: tiefe Streicher, Pauken. Dann ist sie allein. Der Saal schweigt. (Wenn Sie dieses Stück nicht kennen, hören Sie es unbedingt. Möglichst live. Keinesfalls auf dem Handy.) Von kaum einem Violinkonzert lässt sich derart eindeutig sagen, es sei Bekenntnismusik. Bekenntnis zu was? Das ist nicht der Punkt. In den hoffnungslosesten Momenten der Kadenz hören wir es wieder, das Motiv: D-Es-C-H. Es ist ein Leiden, durch das wir da durchmüssen, mit ihm, und das macht diesen Abend zusammen mit der Elften so ungemein fordernd, anstrengend, aber eben irgendwie auch erlösend, erfüllend.
Der Übergang zum Finale klappt perfekt. Gergiev hat das mal in Paris spektakulär versemmelt und daher umgehend als Zugabe spielen lassen, für die DVD. Hier in Leipzig gibt es großen Jubel für eine Solistin, die dieses Werk so ganz anders spielt als die Jansens und Batiashvilis dieser Welt, aber gerade deshalb auch viel zu sagen hat.
Von der Elften gäbe es über fast jeden Takt etwas zu berichten, aber damit würde dieser Bericht unlesbar, und deshalb seien hier nur ein paar Dinge erwähnt, die zu diesem erschütternden Erlebnis führten. Fahler Beginn, senza vibrato in den Streichern, Paukenpochen, Trompetenblasen wie zum Appell, es ist eine unfassbare Düsterkeit, an der selbst die Harfen nur wenig ändern können.

Dann diese vielen brutalen und unerbittlichen Stellen, die das gesamte Stück durchziehen. Dieses Massaker von Sinfonie dauert etwa eine Stunde; die Sätze gehen ineinander über. Nelsons formt extrem dichte Linien, er macht inzwischen etwas, das beglückend anzusehen und als Resultat anzuhören ist: Wendet er sich kurz einer Gruppe zu, etwa den ersten Violinen, tut sich sofort etwas. Nicht, dass es jemals medioker oder gar schlecht wäre; aber dieses kleine Extra herauszukitzeln, das ist Exzellenz und sorgt für Gänsehaut. Fein und warm klingt das in den Streichern.
Vollausbrüche wie im dritten Satz, der mit einer Irrsinnsfuge beginnt, werden mit extremer Lautstärke in den Saal gepeitscht, und genau so und nicht anders soll es sein. Die Vollbremsung ins ppp wird zum tragischen Unfall, gar zur oben beschrieben Postapokalypse. Schlagwerk und Pauken haben viel zu tun, die Solotrompete… Ach, ich wollte doch niemanden aus diesem fabelhaften Orchester hervorheben. Vielleicht doch: Die Bratschen, die die russische Weise so bewegend, zart und leise intonieren.
Es gibt nämlich eben auch leise Stellen, und die Dame zwei Plätze neben mir gewinnt den Preis dafür, zwei der allerleisesten ausgewählt zu haben, um a) eine Tablette einzunehmen und b) aufs Enervierendste mit ihrem Brillenetui – schnapp! – herumzufuchteln. Die Fremdscham ihrer jungen Begleiterin neben mir – sie sieht der italienischen Pianistin Beatrice Rana verblüffend ähnlich – ist spürbar. Die „Sei bitte still“-Versuche sind heroisch, ernten aber genau die Art Blick, den man im Englischen als withering glance bezeichnet: Wirst Du so angeschaut, verwelkst Du binnen Sekunden.
Und dann läuft da vorn auch noch dieser Soundtrack ohne Film, wie mal irgendwer die Elfte genannt hat, die hier mit Vollgas gegen die Wand fährt. Kein Ausschwingen der Glocken. Plötzliches Verstummen. Unglaublich lange Stille, am zweiten Abend hintereinander. Was ist das Leipziger Publikum diszipliniert. Und was können die Bostoner und ihr Chef das gut. Welch ein Glück, sie noch weitere Male hier zu erleben.
Dr. Brian Cooper, 17. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schostakowitsch Festival I Gewandhaus zu Leipzig, 15. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival II Gewandhaus zu Leipzig, Mendelssohn-Saal, 16. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival IV Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025
4. Symphoniekonzert, Schostakowitsch und Mahler Lübecker Musik- und Kongresshalle, 18 Dezember 2023