Boston Symphony Orchestra, Andris Nelsons Music Director of the Boston Symphony Orchestra © Jens Gerber
Das Boston Symphony Orchestra beim Leipziger Schostakowitsch-Festival mit den Sinfonien Nr. 6 und 15 in der sonntäglichen Matinee. Andris Nelsons findet für sein Publikum lobende Worte.
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) – Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54; Sinfonie Nr. 15 A-Dur op. 141
Boston Symphony Orchestra
Andris Nelsons, Dirigent
Gewandhaus zu Leipzig, 18. Mai 2025
von Brian Cooper
Nach dem dritten Konzert des großartigen Boston Symphony Orchestra in Folge – das Gewandhaus ist diesmal nicht ganz ausverkauft – versteht man etwas besser, warum es als das „europäischste“ der US-amerikanischen Spitzenorchester gilt. In Zeiten, da sich die Orchester der Weltspitze immer mehr gleichen, das behaupten zumindest Einige, sticht hier ein Klang hervor, der doch ein wenig anders ist als jener der Orchester aus Cleveland oder Los Angeles. Eine solche Wärme hört man in der alten Welt eher in Berlin und Amsterdam. Oder in Leipzig. Aber insgesamt finde ich die Debatte, wenn sie denn eine ist, müßig. Außerdem geht es hier um Dmitri Schostakowitsch, der im Jahr seines 50. Todestags in Leipzig geehrt wird wie nur selten oder gar nie zuvor.
Seine Sechste höre ich gern. Hier klingt sie dicht, düster, voller Schmerz, herb, und unter Andris Nelsons, der ein begnadeter Anwalt des Komponisten geworden ist, entstehen Bilder. Die Gedanken sind bekanntlich frei, also erzählen wir hier frei(mütig) von weiten Landschaften, die sich im Kopf auftun, und vom fabelhaften Englisch-Horn, das ich in meinem Bericht über die Achte schändlicherweise zu erwähnen vergaß… Es ist einfach ein derart gutes Orchester, dass man tausende Wörter bräuchte, um jede herausragende Einzelleistung gebührend zu würdigen.
Im ersten Satz schon steht die Zeit still, als tiefe Basstöne, trillernde Celli und zwei Flöten einen kristallin-zerbrechlichen Klang erzeugen, der – und das geschieht in den drei Konzerten der Bostoner oft – Gänsehaut erzeugt. Pizzicati. Verklingen. Stille. Und auf die Stille kommen wir noch zu sprechen.
Der zweite Satz, klarinettenkeck und trubelig, bringt uns wieder auf den Spielplatz des Lebens, nach all der Düsternis des ersten Satzes. Ohne Bedrohlichkeit ist die Welt freilich auch hier nicht, es wird mitunter laut und martialisch, aber sie ist verspielt, diese Welt, und, ja, freier. Im witzig-virtuosen dritten Satz dann wieder das so typische Getrappel – wer denkt bei DSCH nicht manchmal an Pferde? – und ein herrlicher Themen- und Ideenreichtum. Ich bin beim H-Dur-Schluss gedanklich im Variété oder Zirkus. Alter Lette, ist das gut.
Nach der Pause dann diese merkwürdige, faszinierende Fünfzehnte. Natürlich wird es auch hier manchmal laut, aber nach all dem Lärm der Vierten, der Achten, der Elften, ist es ein geradezu introvertiertes letztes sinfonisches Statement. Der große Kurt Sanderling, von dem es eine herausragende Aufnahme der 15. mit den Berliner Philharmonikern gibt, schrieb einmal, für ihn sei der erste Satz „etwas ganz Schreckliches, die komponierte Seelenlosigkeit, die emotionale Leere, in der man sich unter der damaligen Diktatur befand“.
Vielleicht hat Schostakowitsch Rossinis Tell auch nur des Pferdegetrappels wegen zitiert („ba-da-bam, ba-da-bam“). Doch wie Ann-Katrin Zimmermann in ihren Ausführungen schreibt (überhaupt sind die Leipziger Programmhefte exzellent, in Deutsch wie in den englischen Teilen von Stephen Johnson): „Die großartige Musik entzieht sich letztlich allen Deutungsversuchen, und selbst die spärlichen Auskünfte des Komponisten prallen an der Unerklärlichkeit dieses Kunstwerks ab.“
Unerklärlich, aber mitnichten unfühlbar. Nelsons und die Bostoner geben eine fabelhafte Darbietung: ob Blech-Choral und Cello-Solo im zweiten, die Holzbläser im dritten, die lyrischen Streicherpassagen im letzten Satz: Der warme Gesamtklang dieses „europäischen“ Klangkörpers ist es, der einen im ganzen Werk, wie zuvor in der Sechsten, staunen macht.
Das Werk verklingt. Todesnähe. Der Tod als Sehnsuchtsort? Vertontes Uhrwerk, wie in der Vierten. Dann Stille. Da ist sie schon wieder, die Leipziger Stille. Der große Respekt vor einer großen Leistung und vor allem vor der Musik, die verklingen darf.
Und dann geschieht wirklich Außergewöhnliches. Etwas, das man selten erlebt. Ein Dirigent wendet sich in einer offenbar spontanen und bewegenden Rede nach dem Konzert an sein Publikum, um ihm aus tiefstem Herzen für seine Aufmerksamkeit und Akzeptanz gegenüber der Musik des Dmitri Schostakowitsch zu danken. Andris Nelsons ist beeindruckt vom Leipziger Publikum, lobt seine beiden Orchester und den Intendanten des Gewandhauses, ohne zu labern, gibt einen Ausblick auf die kommenden zwei Wochen und ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit ab – ohne freilich auf die Weltlage einzugehen: „Es geht um Humanität!“
Das englische „It’s about humanity“, kann man auch dahingehend übersetzen, dass es um die Menschheit als Ganzes geht. Das ist das Schöne am Übersetzen: Manches bleibt mehrdeutig. Eindeutig hingegen ist, dass ganz sicher alle Menschen im Saal bei seiner Rede wie schon während des Konzerts die Humanität des Dmitri Schostakowitsch gespürt und irgendwie auch verstanden haben.
Dr. Brian Cooper, 19. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schostakowitsch Festival I Gewandhaus zu Leipzig, 15. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival II Gewandhaus zu Leipzig, Mendelssohn-Saal, 16. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival III Gewandhaus zu Leipzig, 16. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival IV Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025
Schostakowitsch-Festival V Gewandhaus zu Leipzig, 17. Mai 2025