Foto © Svetoslav Nikolov-Chapi
Plamen Kartaloff inszeniert ein spirituelles Werk der bulgarischen Seele
Kiril Popov
„Der Einsiedler von Rila“
Plamen Kartaloff, Inszenierung
Zorsh Dimitrov, musikalische Leitung
Alexander-Newski-Kathedrale, Sofia, 11. Juli 2025
von Dirk Schauß
Es gibt Theaterabende, die hallen nach. Die Wiederaufnahme von „Der Einsiedler von Rila“ von Kiril Popov am 11. Juli vor der Alexander-Newski-Kathedrale war einer dieser besonderen Momente – ein Abend, der die Sinne überwältigte und zugleich einen stillen Dialog mit der Seele eröffnete.
Die monumentale Kathedrale braucht keine Erklärung für ihre Wirkung. Als die Glocken über den weitläufigen Platz hallten, entstand jene einnehmende Atmosphäre, die nur an besonderen Orten möglich ist – eine Mischung aus Ehrfurcht, Sammlung und gespannter Neugierde. Der warme Julisommertag war gerade in die Dämmerung übergegangen, und die ersten Schatten legten sich über die Stufen der Kathedrale, während sich das Publikum versammelte. Erwartung lag in der Luft…
Worum geht es bei diesem besonderen Werk?
Die Erzählung „Der Einsiedler von Rila“ ist in Bulgariens goldener Epoche angesiedelt, während der Regentschaft der Könige St. Boris-Michael, Simeon der Große und St. Peter, als das Reich seine größte Blüte erreichte. Im Mittelpunkt steht der junge Johannes, der nach dem Verlust seiner Eltern all seinen Reichtum den Armen schenkt und sich in die Abgeschiedenheit der bulgarischen Bergwälder begibt, um fortan nur noch Gott zu dienen.
Im ersten Teil wird Johannes’ Aufnahme ins Kloster beschrieben, seine ersten mystischen Erlebnisse und das Aufeinandertreffen mit seinem Bruder, der ihn ins weltliche Leben zurückführen möchte. Der kleine Neffe Lukas kommt zu ihm, um an seiner Seite zu bleiben. Doch der Vater des Jungen bringt ihn zurück ins Dorf, wo Lukas bald darauf durch einen Schlangenbiss ums Leben kommt. Johannes trauert zutiefst um das Kind, lässt sich aber nicht von seinem Weg der Weltabkehr und des Gebets abbringen.
Im zweiten Teil wird Johannes’ leidenschaftliches Flehen für sein bulgarisches Volk geschildert sowie seine Audienz bei König Peter, der seine Weisheit sucht. Johannes, der alle irdischen Güter verschmäht, bittet Gott um Segen für sein Volk und sagt den Bau einer Kirche an jenem Ort voraus, wo sein Neffe den Tod fand. Die Erzählung schließt mit Johannes’ Eingang in die Ewigkeit und der immerwährenden Verehrung seiner sterblichen Überreste im Rila-Kloster.
Plamen Kartaloff, seit Jahren nicht nur Generaldirektor der Sofia Opera, sondern ihr künstlerisches Gewissen, hat mit dieser Inszenierung erneut bewiesen, warum sein Name weit über Bulgariens Grenzen hinaus Respekt genießt. Seine Handschrift ist unverkennbar, aber nie aufdringlich. Kartaloff gehört zu jenen Regisseuren, die nicht sich selbst in Szene setzen, sondern dem Werk dienen. Seine Haltung ist geprägt von tiefem Respekt vor dem Stoff und einem unerschütterlichen Vertrauen in die Kraft der Reduktion.
In dieser Aufführung verzichtete Kartaloff konsequent auf plakative Effekte. Keine überladenen Szenenwechsel, kein symbolisches Beiwerk, das nach Aufmerksamkeit schreit – stattdessen schuf er Raum. Raum für die Figuren, ihre inneren Kämpfe, ihre Zweifel und ihre Gewissheiten. Raum für die Stille, die in diesem Werk ebenso wichtig ist wie die Musik. Besonders bemerkenswert war sein Gespür für das richtige Tempo. Es gab Passagen, in denen scheinbar wenig geschah – und genau diese Momente entwickelten eine intensive Dramatik. Kartaloff versteht es gut, durch Zurücknahme zu verstärken, durch Verzicht zu gewinnen.
Nela Stoyanovas Bühnenbild wirkte auf den ersten Blick fast spartanisch. Zwei gewaltige Felsblöcke ragten in den Nachthimmel, als wären sie Zeugen der Jahrhunderte, stumme Begleiter des Einsiedlers auf seinem spirituellen Weg. Diese scheinbare Einfachheit war jedoch trügerisch – jedes Element war durchdacht und funktional. Die Felsen boten nicht nur praktische Spielflächen, sondern wurden zu Symbolen der Beständigkeit, der Prüfung, der Meditation. Die raue Oberfläche der Steine kontrastierte bewusst mit der glatten Pracht der Kathedrale im Hintergrund und unterstrich so den Gegensatz zwischen weltlicher Macht und spiritueller Einfachheit.
Marta Mironskas Kostüme verankerten die Handlung historisch, ohne dabei in museale Korrektheit zu verfallen. Besonders die Gewänder König Peters fielen durch ihre durchdachte Gestaltung auf: schwere Stoffe, die Würde und Macht ausstrahlten, aber auch eine gewisse Schwermut. Man spürte förmlich das Gewicht der Verantwortung, das auf den Schultern des Herrschers lastete. Die Mönchsgewänder der anderen Figuren wirkten dagegen wie befreiende Einfachheit – grobe Stoffe, natürliche Farben, die von irdischen Eitelkeiten befreit hatten.

Vladimir Granchanovs Projektionen auf die Kathedrale gehörten zu den stärksten visuellen Momenten des Abends. Diese waren keine bloße Dekoration, sondern poetische Verdichtungen der inneren Handlung. Wenn flackerndes Licht hinter Ikonen erschien, wenn Windböen durch dunkle Wälder zu fegen schienen, wenn Sturm über einem Grab tobte – dann entstanden Bilder, die wie aus dem kollektiven Gedächtnis aufstiegen. Die Projektionen verschmolzen dabei so organisch mit der Architektur der Kathedrale, dass sie nicht als technische Zusätze, sondern als natürliche Erweiterung des Raums wirkten.
Emil Dinkovs Lichtregie unterstützte diese Wirkung mit subtiler Präzision. Nie wurde das Licht zum Selbstzweck, nie drängte es sich in den Vordergrund. Stattdessen modulierte es die Stimmungen, verstärkte die emotionalen Wendungen, schuf Intimität oder Weite, je nach dem, was die Szene verlangte. Besonders gelungen war der Übergang vom Tageslicht zum künstlichen Licht, als die natürliche Dämmerung allmählich von der Bühnenbeleuchtung abgelöst wurde – ein fließender Prozess, der die Grenzen zwischen Realität und Theaterwelt verwischte.
Kiril Popovs Komposition stellt keine Forderungen an den Hörer, sondern lädt zum Verweilen ein. Diese Musik will nicht glänzen oder beeindrucken – sie will berühren. Lange, ausdrucksvolle Streicherlinien weben sich durch die Handlung, zurückhaltende Blechpassagen setzen dezente Akzente, und die Vokalpartien klingen wie Gebete, die aus der Tiefe der Seele aufsteigen. Die Musik folgt nicht den konventionellen Regeln des Opernbetriebs, sondern entwickelt ihre eigene, meditative Logik. Ganz unmerklich findet sie Zugang in die Seele der Zuhörer.
Das Orchester der Sofia Opera unter der Leitung von Zorsh Dimitrov bewältigte diese anspruchsvolle Partitur einfühlsam und tonschön. Nichts geriet in Eile, nichts klang mechanisch oder routiniert. Die Musiker schienen zu verstehen, dass ihre Aufgabe nicht darin bestand zu führen, sondern zu begleiten – die Sänger, die Handlung, die Stimmung. Besonders die Streicher entwickelten einen warmen, samtigen Klang, der die spirituelle Atmosphäre des Werks unterstützte, ohne sie zu überwältigen.
Der Chor unter Violeta Dimitrova sang präzise, mit einer inneren Disziplin, die an das Wesen des Werks erinnerte: Sammlung, Klarheit, Verantwortung. Jede Phrase war durchdacht, aber nie wirkte das Ergebnis verkrampft oder überprobt. Die Chorstimmen verschmolzen zu einem einheitlichen Klangkörper, der mal wie ein kollektives Gebet klang, mal wie die Stimme des Gewissens. Die Kinderstimmen unter Dimitar Kostanzaliev fügten sich nahtlos in dieses Gesamtbild ein – sie wirkten nie angelernt oder aufgesetzt, sondern wie ein natürlicher Teil der szenischen Wirklichkeit.
Das Ensemble der Solisten überzeugte durch die Geschlossenheit seiner Darstellung. Hier versteckte sich niemand hinter seiner Rolle – stattdessen ließen die Sänger die Figuren durch sich hindurchfließen, wurden zu Medien einer größeren Wahrheit.
Dobrin Dosev als älterer Johannes war weniger Darsteller als vielmehr stiller Mittelpunkt der Aufführung. Seine Präsenz war von einer ruhigen Intensität geprägt, die sich nicht in großen Gesten oder spektakulären Momenten manifestierte, sondern in der Art, wie er dastand, wie er schwieg, wie er den Blick abwandte. Sein Spiel erinnerte an Menschen, die durch Verlust zur Weisheit gefunden haben, die gelernt haben, dass Verzicht nicht Armut, sondern Reichtum bedeuten kann. In seiner Figur verdichtete sich die Essenz des Werks: Klarheit durch Reduktion, Tiefe durch Einfachheit.
Atanas Mladenov überzeugte als junger Johannes mit einem ungewöhnlich differenzierten Zugang zu seiner Rolle. Sein Gesang war anfangs eher suchend als strahlend, eher fragend als behauptend – und genau das machte seine spirituelle Entwicklung so nachvollziehbar. Da stand jemand, der den Rückzug aus der Welt nicht aus Heldenmut wählt, sondern aus innerer Notwendigkeit. Mladenovs Stimme trug nicht nur den Text, sondern offenbarte auch die seelischen Bewegungen seiner Figur – besonders eindrucksvoll in der Szene nach dem Tod von Lukas, wo jede Phrase wie ein schmerzliches Ausatmen klang. Faszinierend, wie dieser wandlungsfähige Bariton seinen Text bedeutungsvoll deklamierte, um sodann in den Gesangsabschnitten zu berühren.
Biser Georgiev, neu in der Rolle des Bruders besetzt, brachte eine vitale Energie in die Aufführung, die dem Werk guttat. Seine Stimme besaß nicht nur Kraft, sondern auch Charakter und Eigensinn. Wenn er seinen Bruder zur Rückkehr in die Welt drängte, wurde das ganze Dilemma zwischen familiärer Verbundenheit und spiritueller Entfremdung spürbar. Georgiev spielte nicht gegen seine Bühnenpartner, sondern mit ihnen – in produktiver Reibung, aber nie ohne Liebe. Seine herrlich timbrierte Stimme war ein echter Gewinn für diese Produktion. Viel Begeisterung beim Publikum verdiente sich der junge Simeon Bonin als sein Sohn Lukas. Mit klarer Sopranstimme und feiner Musikalität rührte sein kurzer Lebensweg besonders die Herzen. Auch darstellerisch zeigte er in seiner natürlichen Unschuld einen starken Ausdruck.
Angel Hristov als König Peter verzichtete bewusst auf die große Pose des Herrschers. Sein Gesang war manchmal fragil, zurückgenommen – doch gerade diese Verletzlichkeit machte ihn glaubwürdig. In seinem Dialog mit Johannes wirkte er nicht wie ein Mächtiger, der gekommen ist, um sich zu zeigen, sondern wie ein Mensch, der wirklich hören und verstehen möchte.

Auch in den Nebenrollen war die Sorgfalt der Besetzung spürbar. Nikolay Petrov als Vater Auxentius strahlte eine ruhige, unerschütterliche Autorität aus, die nicht auf Macht, sondern auf Weisheit beruhte. Dimitar Stanchev verlieh der Stimme Gottes eine Qualität, die nichts Donnerndes oder Bedrohliches hatte, sondern gelassen klang – wie eine Stimme, die aus der Seele aufsteigt. Stefan Vladimirov gab der Stimme des Volkes genau die Wärme und Menschlichkeit mit seiner kultivierten Bass-Stimme, die nötig war, damit sich die Zuschauer verstanden und repräsentiert fühlten.
Als das Werk mit der Himmelfahrt des Johannes endete, herrschte auf dem Platz vor der Kathedrale eine besondere Stimmung. En kollektives Innehalten, als müssten alle Anwesenden erst wieder zu sich finden, wurde spürbar. Dann aber erhob langer, herzlicher Applaus, viele berührte Gesichter, manche einfach nur dankbar für das Erlebte.
Das war kein Spektakel im herkömmlichen Sinn – sondern ein Abend, der Menschen miteinander verband, der sie zu einer Gemeinschaft machte, die über den Moment hinausreichte. Ein Abend, der bewies, dass Theater in dieser spirituellen Weise auch verwandeln kann. Wer mit offenem Herzen dieser Aufführung beiwohnte, verließ diesen Aufführungsort mit berührter Seele.
Dirk Schauß, 13. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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