Velte lässt die Masken tanzen: Mannheims Pagliacci zeigt, dass gutes Theater nicht altert

Ruggero Leoncavallo, Pagliacci  OPAL, Nationaltheater Mannheim, 4. Oktober 2025

© Christian Kleiner

Ruggero Leoncavallo
Pagliacci

Drama in zwei Akten und einem Prolog

Musikalische Leitung: Anton Legkii
Nationaltheater-Orchester

Regie: Roland Velte
Szenische Leitung der Wiederaufnahme: Claudia Plaßwich
Bühne & Kostüm: Wolfgang Gussmann
Chordirektor: Alistair Lilley
Kinderchorleitung: Anke-Christine Kober 

 

Wiederaufnahme im OPAL, Nationaltheater Mannheim, 4. Oktober 2025

von Dirk Schauß

Manchmal passiert im Theater das kleine Wunder, dass die Zeit stehen bleibt. Am 4. Oktober, im OPAL des Nationaltheaters Mannheim, geschah genau das: Pagliacci, Ruggero Leoncavallos bitteres Spiel im Spiel, in einer Inszenierung von Roland Velte, die 1984 Premiere hatte.

Und siehe da – 41 Jahre später wirkt sie kein bisschen antiquarisch. Eher wie ein alter, sehr guter Wein, der seine Gerbsäure längst abgelegt hat, aber noch Feuer hat im Herzen.

Velte, ein Regisseur von jener Sorte, die ihre Handwerkskunst nie als intellektuelle Pose verstanden haben, erzählt schlicht, klar und klug. Seine Inszenierung spielt im Biedermeier – ein hübsch gezähmtes Zeitalter, das innerlich brodelt. Ein guter Nährboden für Leoncavallos Komödiantenstück über Eifersucht, Selbsttäuschung und den Moment, in dem Theater und Leben nicht mehr auseinanderzuhalten sind.

Wolfgang Gussmann, verantwortlich für Bühne und Kostüm, liefert den passenden optischen Rahmen: Ein weit gespannter Theaterraum, in dem eine schräge Bretterbühne steht – ein Theater im Theater, ganz ohne Regie-Mätzchen. Die Kostüme: elegant, fein, von jener Sorte, die erzählen, ohne zu schreien. Man sieht und spürt: Hier hat jemand gearbeitet, nicht nur gestaltet.

Und dann diese kleine, fast rührende Erweiterung: die stumme Figur von Beppes Mutter (überzeugend: Sabrina Koch), eine Art guter Geist der Truppe, die trommelt, Requisiten sortiert, Präsenz hat, ohne ein Wort zu sagen. So etwas kann leicht zu sentimentaler Folklore geraten, aber hier sitzt es wirkungsvoll – ein liebevolles Augenzwinkern auf das, was Theater eigentlich ausmacht: dass immer jemand im Hintergrund die Fäden zieht. Oder die Szene nach Canios Arioso „Un tal gioco“, wenn er Nedda eine Rose reicht, die sie später, im Affekt der Abscheu, mit einem Fußtritt zerquetscht – eine einfache, aber treffende Symbolik für das Zerstören jeder Illusion von Liebe.

© Christian Kleiner

Claudia Plaßwich, die Leiterin der Wiederaufnahme, hat ganze Arbeit geleistet. Ihre präzise Einstudierung sorgt dafür, dass die alte Inszenierung nicht bloß rekonstruiert, sondern wachgehalten wird. Die Chöre bewegen sich natürlich, nicht als „Statisterie mit Stimme“, sondern als organischer Teil der Handlung. Das ist selten. Und es macht einen großen Unterschied.

Man kann sich dabei kaum verkneifen, einen kleinen Sprung zurück in die Geschichte zu machen. 1984, die Premiere: Canio wurde damals abwechselnd von zwei Tenören gesungen, die beide auf ihre Weise ganz besonders waren – Corneliu Murgu, das vokale Heißblut, und Jean Cox, der ewige Heldentenor, damals 62 Jahre alt, aber klanglich noch so frisch, dass man ihm die Jugend einfach glauben musste und auf der anderen Seite er der erfahrene Schmerzensmann war. Mannheim war in jener Zeit ein Opernhaus mit internationalem Atem. Diese Aura, man glaubt es kaum, ist an diesem Abend noch zu spüren.

Zur aktuellen Aufführung: Irakli Kakhidze gab sein Rollendebüt als Canio – und dieser Umstand verdient besondere Erwähnung. Der georgische Tenor ist ein Sänger von Format, technisch auf der Höhe seiner Kunst: eine Stimme mit Schmelz, Leuchtkraft und makelloser Kontrolle. Man hört sofort, dass er in der italienischen Tradition zu Hause ist, besonders bei Verdi, wo Noblesse und Linie zählen. Doch Canio verlangt deutlich mehr – das Brechen der Linie, das kontrollierte Entgleisen, den Abgrund.

© Christian Kleiner

Kakhidze blieb souverän, seine Ausbrüche waren gut dosiert, seine Dynamik klug gesteuert, aber das emotionale Zentrum – der Schmerz, das Zerbrechen – blieb eher Andeutung anstelle echter Erschütterung. Sein „Vesti la giubba“ war makellos gesungen, aber nicht tödlich getroffen. Darstellerisch wirkte er allzu sympathisch, freundlich jugendlich; der cholerische Schattenmann, der in Canio steckt, blitzte nur auf. Und dennoch: Für ein Rollendebüt war das eine beachtliche Leistung. Die Stimme, das Material, die Musikalität – all das ist da. Was noch fehlt, kann reifen: der Mut zum Risiko, der Wahnsinn, die völlige Entäußerung, die Leoncavallos Clown zur humanen tragischen Figur macht. Somit verschob sich die Aufmerksamkeit auf einen anderen Protagonisten.

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Evez Abdulla als Tonio schuf die packendste Figur an diesem Abend. Sein Prolog: sofort elektrisierend, nobel in der Stimme, klug im Text. Abdulla singt nicht einfach, er spricht mit dem Klang, formt Gedanken. Er macht aus Tonio keine reine Schurkenfigur, sondern einen verletzten Menschen, der sich aus Demütigung in Rache flüchtet. Dunkle Farben, fein dosierte Härte, ein Hauch Mitleid – Abdulla war an diesem Abend das emotionale Zentrum, der Einzige, der tatsächlich eine Geschichte erzählte und mit vielen Klangfarben seinen Text gestaltete.

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Seunghee Kho als Nedda brachte vokale Leichtigkeit und feinen Glanz ins Spiel. Ihre Stimme besitzt lyrische Beweglichkeit, ein Timbre von silbriger Zartheit, und sie versteht es, ihre Figur nicht bloß zu singen, sondern zu leben. Ihr Freiheitsdrang, ihr Trotz gegen Canios Kontrolle, wirkte glaubhaft. Nikola Diskić als Silvio – ein Bariton mit schönem Kern und sicherer Technik – blieb im Ausdruck etwas zu zurückgenommen. Das Liebesduett mit Nedda war stilistisch sauber, aber kühl – als hätten beide den Fluchtplan noch einmal überdenken wollen. Die Leidenschaft blieb lediglich scheue Andeutung. Rafael Helbig-Kostka brachte als Beppe die nötige Auflockerung: leicht, elegant, mit lyrischen Tenortönen in der feinen Serenade und einer sympathischen, schalkhaften Präsenz.

Das große Choraufgebot unter Alistair Lilley war, wie so oft in Mannheim, ein Aktivposten: homogen, beweglich, mit der richtigen Portion Szene im Ton. Besonders schön, wie der Kinderchor (geleitet von Anke-Christine Kober) eingebunden war – kein süßliches Beiwerk, sondern mit vollem Einsatz dabei.

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Und das Orchester? Das Nationaltheater-Orchester, von Anton Legkii geleitet, zeigte an diesem Abend große Klasse. Druckvolles, aber durchhörbares Spiel, farbenreiche Klangkultur, präzise Akzente – Legkii formte das Verismo-Geschehen ohne Übertreibung, aber mit feuriger Innerlichkeit. Wo andere Dirigenten Pathos aufblasen, ließ er Spannung atmen. Die Streicher sangen, das Blech glühte, die Holzbläser erzählten und die Schlagzeuger waren mit Wucht bei der Sache. Und Legkii hielt all das in wohltuender Balance – ohne Theaterdonner, aber mit Seele.

Der Schlussapplaus war lang, gespickt mit Bravorufen; doch die ganz große, hingerissene Ovation blieb aus – ein Echo dessen, was man während der Vorstellung gespürt hatte: Bewunderung für Qualität und Handwerk, aber das letzte Quäntchen Schock, das Pagliacci manchmal auslösen kann, fehlte. Vielleicht liegt genau darin die Herausforderung: eine Inszenierung, die so sehr auf Werktreue und Handwerk setzt, läuft Gefahr, das Risiko zu glätten. Und Pagliacci lebt vom Zerreißen, vom Riss zwischen Bühne und Leben, vom Schlag in die Magengrube.

Trotzdem bleibt Bewunderung für dieses langlebige Stück Theaterarbeit. Roland Veltes Inszenierung verstaubt nicht, weil sie sorgsam ist, liebevoll in den Details und doch entschieden in der Gesamtführung. Die Wiederaufnahmearbeit von Claudia Plaßwich hat diese Qualitäten akzentuiert, die Chöre und das Orchester taten ihr Übriges. Und Kakhidze? Ja, sein Canio war ein Rollendebüt – und eines, das zeigt: hier steht ein Sänger, der in Zukunft, mit mehr Risiko und noch stärkerer darstellerischer Entäußerung, eine wirklich erschütternde Darstellung geben kann.

Bis dahin bleibt diese Produktion ein Musterbeispiel dafür, wie Theater durch Sorgfalt, Ensemblegeist und handwerkliche Klarheit lebendig bleibt – auch nach vier Dekaden.

Dirk Schauß, 5. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Cavalleria rusticana / Pagliacci Münchner Opernfestspiele, Nationaltheater, 9. Juli 2025

Cavalleria rusticana / Pagliacci, Jonas Kaufmann Nationaltheater, München, 22. Mai 2025 PREMIERE

Cavalleria rusticana/Pagliacci Wiener Staatsoper, 22. Jänner 2025

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