CD-Besprechung:
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 2 c-moll „Auferstehung“
Hallé Orchestra
Kahchun Wong, musikalische Leitung
Hallé, CDHLD7568
von Dirk Schauß
Ein voller Saal, gespannte Stille, dann dieser erste wuchtig tremolierende Auftakt: So begann an einem Januarabend 2025 in der Bridgewater Hall von Manchester eine Aufführung, die sich ins Gedächtnis brannte. Das Hallé Orchestra unter Kahchun Wong spielte Mahlers zweite Sinfonie – die „Auferstehung“ – und ließ keinen Zweifel daran, dass hier etwas von Gewicht geschah. Nun liegt die Live-Aufnahme auf CD vor, und sie bestätigt, was im Konzert zu spüren war: Präzision, Hingabe und ein künstlerischer Ernst, der weit über bloßes Dirigierhandwerk hinausgeht.
Wong, seit 2024 Principal Conductor des Hallé, gehört zu jener Generation, die Mahler nicht mehr erkämpfen muss. Er dirigiert ihn ohne Pathos, ohne Traditionslast, mit klarem Blick auf das, was in der Partitur steht. Doch dieser analytische Zugriff schließt die emotionale Dimension nicht aus – im Gegenteil: Sie entsteht aus Genauigkeit, aus der Beherrschung des Materials.
Der erste Satz beginnt ohne Gnade. Die Kontrabässe reißen den Boden auf, die Blechbläser schneiden mit blankem Metall durch die Textur. Nichts verschwimmt, nichts wird zelebriert. Wong lässt die Struktur sprechen. Seine Tempi sind durchdacht, seine Spannungsbögen präzise gesetzt. Dabei entwickelt sich die Musik aus der Bewegung heraus, nicht aus willkürlicher Dramatik. Das Orchester reagiert mit Disziplin und Leidenschaft zugleich – die Streicher artikulieren scharf, das Blech glüht, das Schlagwerk markiert. Die Aufnahme, live und doch von frappierender Klarheit, zeigt ein Ensemble, das wie ein Organismus atmet. Man hört, wie aufmerksam hier musiziert wird, wie jede Stimme auf die andere reagiert.
Der zweite Satz öffnet den Raum. Nach der eruptiven Wucht des Anfangs folgt Erinnerung. Wong formt den Ländler mit natürlichem Atem, ohne jede Süßlichkeit. Die Holzbläser zeichnen zarte Bögen, die Streicher phrasierten mit einer Gelassenheit, die nichts Beschwichtigendes hat. In der Transparenz liegt eine leise Wehmut – als sähe man in einen Spiegel, der Vergangenheit und Gegenwart zugleich zeigt. Kleine Verschiebungen im Tempo, unauffällige Rubati, präzise gesetzte Übergänge – das alles wirkt organisch, aus der Musik gedacht.
Das Scherzo ist Mahler in seiner sarkastischen Maskerade. Wong zeigt, wie nah Witz und Abgrund beieinanderliegen. Die Pauke donnert wie eine ungeduldige Mahnung, die Holzbläser spotten, die Klarinetten lachen mit scharfen Zähnen. Doch unter dieser grotesken Oberfläche glimmt Bitterkeit. Der Satz pulsiert, getrieben von einer rhythmischen Energie, die nie ins Chaotische kippt. Wongs Kontrolle bleibt spürbar – nie engherzig, aber konsequent. Gegenüber Santtu-Matias Rouvalis flinker, glänzender Lesart wählt Wong den ruhigeren Weg; er legt die Ironie offen, ohne sie zu überzeichnen.
Im vierten Satz, dem Urlicht, zieht sich die Musik in sich selbst zurück. Dame Sarah Connolly singt schlicht, ohne theatrale Geste. Ihre Stimme hat zwar etwas an Glanz verloren, doch sie trägt in sich tiefe Erfahrung. Wong begleitet mit feinstem Gespür: Streicher wie Schleier, Bläser im kaum hörbaren Pianissimo. Kein Schmelz, kein Pathos – vielmehr eine leise, ernste Innigkeit. Diese Reduktion wirkt stärker als jedes große Gefühl, weil sie den Kern des Werks berührt: die Sehnsucht nach Trost.
Das Finale entfaltet Wong mit großer Ruhe. Er nimmt sich Zeit für das Entstehen, für das Wachsen der Musik aus der Stille. Der Einsatz der Hörner ist glanzvoll, aber nie grell. Wenn das Schlagwerk den „Marsch der Toten“ ankündigt, ist die Spannung greifbar. Alles läuft auf den Moment zu, in dem die Chöre einsetzen – Hallé Choir und Hallé Youth Choir, vereint in einem Klang, der hell und zugleich erdverbunden ist. Sie singen mit einer Energie, die unmittelbar wirkt: präzise, jugendlich, getragen von eine tiefen Überzeugung.
Masabane Cecilia Rangwanasha strahlt mit klarem, fokussiertem Sopran; Connollys Mezzo bleibt der erdige Gegenpol. Wong führt beide Stimmen mit sicherem Sinn für Balance, nie um des Effekts willen. Wenn die „Forever Bells“, eigens aus Liverpool herbeigeschafft, erklingen, schwingt das Symbolische mit: kein Effekt, sondern eine klangliche Metapher für das, was Mahler meinte, als er von „überwältigender Liebe“ sprach. Die Spannung steigert sich bis zum großen Dur-Schluss, in dem alles zusammenfließt – Chor, Orchester, Orgel, Glocken – und der Raum hell zu leuchten beginnt.
Wongs Lesart ist monumental, doch nie selbstgefällig. Sie hat Gewicht, aber auch Beweglichkeit. Er legt das große Partiturgeflecht offen, ohne die Feinheiten preiszugeben. In der Klarheit liegt Wärme, in der Disziplin Ausdruck. Man spürt, dass er Mahler nicht als philosophische Doktrin, sondern als menschliches Drama versteht – als Musik, die uns zwingt, über das eigene Ende nachzudenken.
Klanglich ist diese Produktion von exemplarischer Qualität. Die Balance zwischen Orchester und Offstage-Besetzung ist ideal, die Dynamik differenziert, der Raum plastisch abgebildet. Selbst im dichtesten Tutti bleibt jede Stimme erkennbar. Die Stille zwischen den Sätzen, das gedämpfte Raunen vor dem Finale – all das trägt zur Unmittelbarkeit bei. Der Applaus nach dem letzten Akkord wirkt nicht störend, sondern wie eine natürliche Entladung der Spannung. Ein einziges, befreites Ausatmen…
Begleitet wird die CD von einem kenntnisreichen Essay des Komponisten David Matthews und einem persönlichen Text Kahchun Wongs, der seine Verbindung zu Mahler beschreibt. Keine PR-Prosa, sondern eine authentische, nachdenkliche Stimme.
Diese „Auferstehung“ ist keine Kopie großer Vorbilder, sondern eine eigenständige Deutung. Sie verbindet technische Meisterschaft mit spiritueller Konzentration, kontrollierte Größe mit glühender Überzeugung. Wong schenkt Mahler nichts hinzu – er befreit ihn vom Übermaß. Was bleibt, ist Klarheit, Glut, Wahrheit. Eine Einspielung, die nicht beeindrucken will, sondern stark überzeugt.
Dirk Schauß, 12. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at