„Argenore“ von Wilhelmine von Bayreuth spiegelt die Verdorbenheit des preußischen Hofes wider

CD-Besprechung: Argenore, Dramma per Musica, Wilhelmine von Bayreuth  klassik-begeistert.de, 13. November 2025

CD-Besprechung:

Argenore – Dramma per Musica
Wilhelmine von Bayreuth

von Jolanta Łada-Zielke

Bei meinem ersten Aufenthalt in Bayreuth 2003 kaufte ich eine CD mit Werken Wilhelmines in der heute nicht mehr existierenden Markgrafen-Buchhandlung. Die CD steckte in einer Blechdose, deren Deckel ein Porträt der Komponistin zierte. Es gab da nur eine einzige Arie aus „Argenore“. Umso mehr freue ich mich über die Veröffentlichung des Vier-CD-Albums mit dem Gesamtwerk, obwohl in einer kürzeren, über vierstündigen Version (das Original dauerte 6 Stunden).

Die Idee entstand 2022, als die Welt sich noch nicht von der Coronavirus-Pandemie erholt hatte und bereits vom russischen Angriff auf die Ukraine erschüttert war. Das künstlerische Konzept und die Koordination des gesamten Projekts übernahm Janno Scheller, der auch die Partie des Alcasto sang.

„Argenore“ entstand in den 1730er Jahren, als Fredericke Sophie Wilhelmine von Preußen (1709–1758) bereits Markgräfin von Bayreuth war und die fränkische Provinzstadt nach und nach zu einem bedeutenden Zentrum für Kultur und Wissenschaft ausbaute. Sie vollendete ihr einziges Dramma per musica im Jahr 1740, als ihr geliebter Bruder den Thron als Friedrich der Große bestieg. Das Libretto von Giovanni Andrea Galletti (1710–1784) enthält deutliche Anspielungen auf die Biografie der Geschwister und die Verhältnisse am preußischen Hof.

Der Titelheld Argenore, König von Pontus am Schwarzen Meer, ist das Alter Ego des absolutistischen Herrschers Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), bekannt als der Soldatenkönig. Als harter, intoleranter und grausamer Herrscher ist er zudem anfällig für Manipulation. Er erliegt dem hinterlistigen Berater Alcasto und verursacht dadurch den Tod seiner Nächsten: seiner Tochter Palmide und ihres Geliebten Ormondo, der sich erst nach seinem Tod als sein verschollener Sohn Eumene herausstellt.
Zu den Nebenfiguren gehören Martesia, Palmides Gefährtin, und Leonida, dem Argenore seine Tochter zur Frau versprochen hat. Wie in Opern üblich, stehen die Gefühle der Figuren im Konflikt mit dem Willen des Königs: Palmide ist mit Ormondo liiert, und Martesia liebt Leonida.

Interessant ist der Ersatz der italienischen Rezitative durch fiktive deutschsprachige Monologe Wilhelmines, verfasst von Marlene Streeruwitz und gesprochen von Claudia Michelsen. In diesen verbalen Zwischenspielen kommentiert die Komponistin den Inhalt des Werkes und verknüpft ihn gleichzeitig mit ihren eigenen Erfahrungen. Manchmal spricht sie in der dritten Person von sich, vermeidet jedoch Selbstmitleid und beschreibt eine Situation distanziert und nüchtern. Die Musik füllt den Rest aus.

Neben der komplizierten Vater-Tochter-Problematik (Argenore-Palmide) thematisiert Wilhelmine ebenfalls die Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Die Liebesgeschichte zweier Menschen, die sich schließlich als Geschwister herausstellen, hat auch Richard Wagner in „Die Sarazenin“ und „Die Walküre“ aufgenommen. Wilhelmine erzählt von der Liebe zu ihrem Bruder, den ihr Vater beinahe wegen Ungehorsams zum Tode verurteilt hätte.

Obwohl Argenore der Titelheld ist, singt Ormondo mit seinen sechs Arien die meisten Stücke in diesem Werk, während die anderen jeweils vier, und der böse Alcasto nur drei haben. In der Arie „Dalla cuna intorno al core“ setzte Wilhelmine die Akzente bewusst nicht richtig ein, um die Falschheit des Helden zu unterstreichen.

Der Bariton Janno Scheller verkörperte diese Figur meisterhaft. Die Mezzosopranistin Magdalena Hinz stellt den inneren Konflikt von Argenore dar, der zwischen Wut und Verzweiflung schwankt, vor allem im abschließenden Rezitativ „Furie, che m’agitate“.

Die Sopranistin Marysol Schalit als Ormondo singt am eindrucksvollsten die Arie „Cadrò, ma tu crudel tiranno“. Der Held tobt im dramatischen
Teil A gegen Argenores Grausamkeit. Im Adagio gehaltenen Mittelteil hingegen beteuert er seine Unschuld und Treue zum Herrscher. Ihre Koloraturen in „Destrier, ch’all’armi usato“ klingen hervorragend.

Pia Davila singt Palmide lyrisch und mitunter dramatisch. Ihre Interpretation von „Come, oh Dio fra tante pene“ ist entzückend, wobei sie von hohen Tönen zu ihrem Brustregister fließend kommt. Ein Countertenor ist in diesem historischen Werk unerlässlich, also haben wir hier den ausdrucksstarken Gerald Thompson, der Leonida verkörpert. Mal würdevoll („Se vuoi, ch’io lieto moro“), mal dramatisch („Scorre per l’onde irate“), verfügt er über eine exzellente Technik, die besonders in den Koloraturen hörbar ist.

Die hervorragende Mezzosopranistin Lena Spohn tritt als Martesia auf. In der Arie „O Dio! mancar mi sento“ vermittelt sie brillant die Stimmungswechsel.

Wilhelmine war eine begabte Cembalistin, und man spürt ihre besondere Wertschätzung für dieses Instrument. In manchen Arien, wie etwa „Ah, per pietade almeno“, hat es eine fast ebenso anspruchsvolle Rolle wie in Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 5, obwohl das Cembalo nur den Generalbass spielt. Jede Arie dieses Dramas ist ein Juwel. Einige, im Dreiertakt, besitzen einen würdevollen Charakter, andere sind dramatisch. Weder Händel noch Vivaldi hätten sich einer solchen Oper geschämt, zumal wenn ihnen ein Ensemble wie das Göttinger Barockorchester zur Verfügung gestanden hätte. Unter der Leitung von dem herausragenden Antonius Adamske spielen die Musiker mit Hingabe, Präzision, jedoch ohne mit der Rokoko-Verzierung zu übertreiben.

Man sollte sich viel Zeit nehmen, um dieses Album anzuhören, und die Weihnachtszeit bietet sich dafür sicherlich an. Vorher lohnt es sich, die Einführungstexte von Antonius Adamske und Janno Scheller im beiliegenden Büchlein zu lesen. Besonders hervorzuheben sind die Worte des Letzteren: „Der durch Wilhelmine und ihre Generation vertretene aufgeklärte Absolutismus ist als Abgrenzung zur vorangegangenen Willkür der Regentschaft ihres Vaters ein entscheidender Meilenstein zu den liberalen Demokratien, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg im Westen entstanden sind und die aktuell durch antidemokratische, postfaktische Kräfte wieder ernstlich bedroht werden“.

Welche Schlussfolgerung lässt sich daraus ziehen? Die „Argenore“ unbedingt auf die Bühne bringen! Natürlich vor allem im Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth, und – wenn möglich – mit derselben Besetzung.

Jolanta Łada-Zielke, 13. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Albumdetails:
Argenore – Dramma per Musica – Wilhelmine von Bayreuth, © Coviello Classics 2025

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