Ein Gesang, der Barrieren überwindet

Interview: kb im Gespräch mit ART’N’VOICES  klassik-begeistert.de, 17. Dezember 2025

ART’N’VOICES während des Auftritts in der Elbphilharmonie, v.l.: Marta Jundziłł, Anna Rocławska-Musiałczyk, Małgorzata Priebe © Marcus Hartelt (Dresden)

Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit Anna Rocławska-Musiałczyk und Szymon Duraj – Mitglieder des polnischen Ensembles ART’N’VOICES

klassik-begeistert: Was hat Ihr Ensemble in den 15 Jahren seines Bestehens zusammengehalten?

Anna Rocławska-Musiałczyk: In diesen 15 Jahren haben viele Sänger unser Ensemble durchlaufen, aber seit 2022/2023 haben wir eine feste Besetzung, mit der wir einen optimalen Klang erreichen konnten. Uns verbindet auch, dass wir alle musikalisch in die gleiche Richtung schauen, was sich in all unseren Projekten widerspiegelt: Alben, Tourneen und Konzerte.

Szymon Duraj: Wir sind ziemlich unterschiedlich und scherzen, dass ART’N’VOICES aus acht Personen und neun Meinungen besteht (lacht). Uns vereint jedoch eine Mission, die Zukunft der A-cappella-Musik durch höchste Klangqualität zu definieren. Gleichzeitig möchten wir sie für jeden Menschen zugänglich machen. Auf dem Weg zu diesem Ziel haben wir bereits viel erreicht, was unter anderem dazu geführt hat, dass man uns zu der Elbphilharmonie, einem der schönsten Konzertsäle der Welt, eingeladen hat.

ART’N’VOICES in der Elbphilharmonie © Marcus Hartelt (Dresden)

klassik-begeistert: Ihre Stärke liegt darin, dass Sie Ihr Repertoire selbst zusammenstellen. Anna komponiert und arrangiert die Stücke, ebenso wie Tomasz Chyła.

Anna Rocławska-Musiałczyk: Als Absolventin der Instrumentalabteilung der Musikhochschule Danzig (Klavier) arbeite ich hauptsächlich als Pianistin. Mit Tomasz Chyła, der auch Jazzgeiger ist, habe ich die Chorleitung abgeschlossen. Wir alle vertreten die Musik- und Vokalszene in Dreistadt (Gdańsk, Gdynia und Sopot). Jeder von uns trägt etwas Kreatives zu unserem Repertoire bei, zum Beispiel schreibt Marta Jundziłł die Texte. Wir sind also eine Einheit in unserer Vielfalt. Ich muss betonen, dass wir kein Chor, sondern ein Vokalensemble sind. Es gibt viele Chöre, aber viel weniger Ensembles, besonders Oktette. Wir gelten als Pioniere dieser Art von Formation, jedenfalls in Polen.

klassik-begeistert: Das Publikum mag interessante Arrangements bekannter Stücke, zum Beispiel von Sting, die Ihr auch in eurem Repertoire habt. Zieht Ihr die Erwartungen der Zuschauer in Betracht?

Anna Rocławska-Musiałczyk: Die Pop-Arrangements sind nur eine Ergänzung zu unserer Haupttätigkeit, obwohl wir dies auch gerne tun. Vor allem aber machen wir eigene Musik, basierend auf unseren Texten, die eine große emotionale Ladung enthalten. Das gilt auch für unser letztes Album „Pieces of Myself“, dessen Stücke wir in der Elbphilharmonie präsentiert haben. Wir stellen das Programm so zusammen, dass es eine richtige dramaturgische Spannung hat. Zuhörer können mit uns eine musikalische Reise durch die Pfade und Windungen der zeitgenössischen Musik unternehmen. Wir wollen zeigen, dass neue Musik nicht unbedingt abschreckend oder unverständlich sein muss. Wir versuchen, unser Schaffen als interessante Geschichte zu vermitteln, die sich zwischen Tradition und Moderne ansiedelt.

ART’N’VOICES während des Auftritts in der Elbphilharmonie, von links: Marta Jundziłł,Szymon Duraj © Marcus Hartelt (Dresden)

Szymon Duraj: Es ist normal, dass Menschen am liebsten das hören, was sie kennen, und dass sie sich von bekannten Künstlern angezogen fühlen. Deshalb verwenden wir die Popmusik, aber in unserer eigenen Interpretation. Fünf von uns sind Komponisten, die bekannte Melodien so arrangieren, dass sie einen einzigartigen Klang erhalten. Dieser Punkt des Programms zieht das Publikum an. Sobald es unser Konzert besucht, erzählen wir ihm ebenfalls die Geschichten, die uns bewegen, in der Hoffnung, dass sie mit persönlichen Erfahrungen der Zuschauer in Resonanz stehen.

klassik-begeistert: Zu der Aufnahme des Videoclips „Pride” (Stolz) haben Sie unterschiedliche Personen eingeladen, die sich sehr authentisch präsentieren, ohne Verschönerungen und Verbesserungen.

Anna Rocławska-Musiałczyk: Unsere Absicht war, ein breiteres Publikum zu erreichen. Als ART’N’VOICES vertreten wir die klassische Musik und möchten sie den Menschen in einer zugänglichen Form präsentieren. Die Idee für das Video zu „Pride” ist ein Versuch, die Barriere zwischen klassischen Musikern und dem Publikum zu überwinden, welches dieses Genre oft als zu exklusiv und unzugänglich empfindet. Wir wollen über diesen Rahmen hinausgehen und zeigen, dass eine solche Musik nicht nur schöne, sondern auch schwierige Themen behandeln kann.

klassik-begeistert: Szymon, wie haben Sie sich während der Dreharbeiten zu diesem Videoclip gefühlt, insbesondere als die geladenen Gäste zwischen Ihnen standen?

Szymon Duraj: Es war für mich ein sehr persönliches Erlebnis, weil auch meine Eltern dabei waren, also die Menschen, die mir am nächsten stehen. Sie waren sehr stolz darauf, uns bei der Umsetzung dieses Projekts unterstützen zu können. Der Tag, an dem wir dieses Musikvideo gedreht haben, war einer von denen, an die man sich noch lange erinnert. Neben „Pride“ stellen wir andere Emotionen dar, die mit den aktuellen menschlichen Problemen verbunden sind. Heute haben wir Zugang zu Sozialmedien und sind mehr denn je mit dem Rest der Welt vernetzt, aber das ist häufig nur eine Fassade. In dem Lied „Isolation“ – einem der schwierigsten auf dem Album Pieces of Myself – haben wir versucht, die Idee zu vermitteln, dass Musik die Antwort ist, wenn man sich unter Menschen einsam fühlt. Das Lied kann man im Internet anhören, wozu wir herzlich einladen. Auf der Bühne verstärken wir jedoch seine Botschaft durch Bewegung. Ich denke, dass dies sowohl Anna als der Komponistin als auch Marta – der Autorin des Textes und Solistin – gut gelungen ist.

ART’N’VOICES nach dem Konzert in der Elbphilharmonie © Marcus Hartelt (Dresden)

Anna Rocławska-Musiałczyk: Für mich ist „Destructivity” ein wichtiger Titel dieses Albums. Es ist eins der längsten Lieder, mit einem Text von Marta Jundziłł. Es erzählt die Geschichte einer Frau, die es vorhat, sich zusammenzusammeln, aber letztendlich fehlt ihr die Kraft dazu. Ich möchte die Zuhörer dazu ermutigen, sich mit diesem Inhalt auseinanderzusetzen, auch wenn er nicht leicht ist. Unsere CD soll nicht nur durch einen schönen Klang begeistern, sondern auch zum Nachdenken, zu Fragen und Diskussionen anregen. Ein wichtiger Aspekt dieses Albums sind auch die Personen, die die Stücke dafür geschrieben haben. Wir präsentieren die Musik aus zwei Sichten, aus der weiblichen und der männlichen. Deshalb haben wir Marek Raczyński zu diesem Projekt eingeladen – einen hervorragenden Komponisten, mit dem wir als Ensemble seit Jahren zusammenarbeiten. Die weibliche Seite fiel mir zu.

klassik-begeistert: Wie sieht Ihre Arbeit an der Gesangstechnik aus? Nimmt jeder von Ihnen Gesangsunterricht? Arbeiten Sie am meisten an der Intonation?

Szymon Duraj: Die Intonation ist natürlich die Grundlage unserer Arbeit. Es ist schwer zu sagen, worauf wir den größten Wert legen, denn das Musizieren gleicht einer Kette, in der jedes Glied wichtig ist. An der Spitze dieser „Pyramide“ stehen die Interpretation und die Vermittlung der entsprechenden Emotionen. Technische Aspekte wie individuelle Stimmbildungsunterricht, Proben und Diskussionen über die Art des Gesangs sind Elemente, die uns dazu führen, was wir mit unserer Musik vermitteln wollen.

klassik-begeistert: In Ihren Werken fördern Sie die heimische Kultur, beispielsweise in der „Kaschubischen Suite”.

Anna Rocławska-Musiałczyk: Beim Komponieren dieser Suite habe ich Originalmelodien aus verschiedenen Teilen der Kaschuben verwendet, da diese Region geografisch sehr vielfältig ist. Jeder Ort der Kaschuben hat seine eigenen Traditionen und Melodien. Ich habe vier davon für die Suite ausgewählt. Dies ist auch ein Beispiel für ein Werk, das sich weiterentwickelt. Die Noten sind online in unserer virtuellen Bibliothek ART’N’VOICES verfügbar. Während des Konzerts entwickeln wir diese Komposition jedoch jedes Mal weiter, indem wir Improvisationen hinzufügen. Wir führen sie bereits seit mehreren Jahren in dieser Form auf.

Ein Schlüsselelement dieser neuen Version der „Kaschubischen Suite“ ist die improvisierte Partie der Geige von Tomasz Chyła. Auch wir als Sänger versuchen in einer Improvisation die Motive und Themen, die hier und jetzt während des Konzerts entstehen, auf aleatorisch-sonoristischer[1] Weise zu entwickeln. Bevor wir die Bühne betreten, legen wir lediglich den konkreten Charakter der Improvisation fest. Jedes Mal ist sie für uns eine Art musikalische Überraschung.

Szymon Duraj: Dabei spüren wir immer einen Adrenalinstoß, weil wir nie wissen, was unsere Kolleginnen und Kollegen sich ausdenken, aber wir müssen konsequent mitziehen (lacht).

klassik-begeistert: Der polnische Teil des Publikums in der Elbphilharmonie hat das Weihnachtslied „Lulajże Jezuniu” mit großer Rührung aufgenommen, aber auch das deutsche Publikum war angenehm überrascht, als sie zwei ihrer Lieder in Ihrer Interpretation gehört haben.

Szymon Duraj: Dies ist unser Brauch, dass wenn wir im Ausland auftreten, versuchen wir ein Stück in der dortigen Sprache vorzubereiten. In Hamburg haben wir das Weihnachtslied „Leise rieselt der Schnee” in Tomasz’ Bearbeitung und erstmals „Es kommt ein Schiff geladen” in Annas Arrangement aufgeführt. Auf diese Weise haben wir den Ort – Norddeutschland und die Meeresküste – und die Weihnachtszeit zusammengesetzt.

klassik-begeistert: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg weiterhin!

Jolanta Łada-Zielke, 17. Dezember 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

[1] Sonorismus (von lateinisch sonor Ton, Klang, Geräusch) ist ein Begriff, der vor allem in der polnischen Musikwissenschaft benutzt wird und eine geräuschorientierte Stilrichtung in der Neuen Musik beschreibt. Der wohl bekannteste Vertreter davon war Krzysztof Penderecki.

Liederabend Vokalensembles ART’N’VOICES Elbphilharmonie, Kleiner Saal, 3. Dezember 2025.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert