Schlussapplaus für das Ensemble mit der anwesenden Komponistin Betty Olivero und dem Komponisten Jan Müller-Wieland ganz links © Gregory Giakis
Ich justiere mein Hören in jedem Stück erneut. Finde Melodien. Höre Klangfarben. Bin konzentriert gespannt, was als nächstes auf mein Ohr trifft. So wach bin ich, so intensiv das Erlebnis. Dieser Abend weckt Glücksgefühle in mir.
Interdisziplinäre Signale 2 – Impression 1
PER NØRGÅRD (Dänemark)
»Anatomic Safari« für Akkordeon solo (1967)
BETTY OLIVERO (Israel)
»Bashrav« für Ensemble (2004)
REIKO FÜTING (Deutschland)
»Weg, Lied der Schwäne« für Ensemble (2015)
KAIJA SAARIAHO (Finnland)
»Semafor« für Ensemble (2022)
JAN MÜLLER-WIELAND (Deutschland)
»Menschen« für Ensemble (2023)
Aleksandar Popović (Akkordeon)
ensemble oktopus
Leitung: Konstantia Gourzi
Reaktorhalle, München, 18. November 2025
von Frank Heublein
An diesem Abend führt das ensemble oktopus, ein Ensemble der Hochschule für Musik und Theater, in der Reaktorhalle in München das Programm „Interdisziplinäre Signale 2 – Impression 1“ auf. Zeitgenössische Musik auf höchstem Niveau unter Anwesenheit von Komponistin Betty Olivero, extra dafür eingeflogen. Auch Gourzis Hochschulprofessorenkollege Jan Müller-Wieland ist im Saal.
Konstantia Gourzi führt den Abend ein als Safari, analog des Titels des ersten Stücks. Ich werde geführt von Musikern und Musikerinnen aus fünfzehn Nationen, die zusammenarbeiten. Ein Leuchtturm im Kleinen, an dem sich die Welt gern ein Beispiel nehmen darf. Gourzi ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die programmatischen Entscheidungen ausschließlich auf musikalischen Aspekten fußen. Bei dieser Hör-Safari staunt mein Ohr. So viele neue Ton-Tiere entdecke ich. Ganz ohne Fernglas bin ich ganz nah dran.

Aleksandar Popović eröffnet mit seinem Akkordeon den Abend mit Per Nørgårds »Anatomic Safari«. Die Anatomie des Akkordeons wird erkundet, seziert. Das Akkordeon atmet zu Beginn. Ein Ton. Atmen. Die Töne werden mehr. Das Atmen bleibt ein strukturierendes Element der Komposition. Ein tonaler Ausbruch. Rückzug der Töne zur Vereinzelung. Die Hand, die am Akkordeon Klappergeräusche produziert. Dynamische musikalische Wellen im Presto Tempo. Zum Schluss ein Tanzrhythmus. Aleksandar Popović steht auf und dreht sich spielend. Tschakka!
Betty Olivero sieht in ihrer Komposition die gelingende Verbindung, die Manifestation der Koexistenz von Kulturen in Musik zu setzen. Der nahe Osten ist ein Sammelbecken, eine Wegekreuzung, die oft genug Gewaltexzesse gesehen hat. Ihre Musik stemmt sich dem Gegeneinander entgegen. Was für einen satten Ton hat Maeve Whelans Viola zu Beginn des Stücks. Dann nervöses tonales Flattern im Ensemble. Aggressives Forte. Vorsichtiges Wagen. Jederzeit spannungsgeladen. Das wundervolle Becken des gemeinsamen Klangs angeführt durch das dunkelwarme Marimbaphon verhallt ins Ende.

Reiko Fütings »Weg, Lied der Schwäne« für Ensemble aus 2015 hat der Komponist für die Aufführung des ensemble oktopus bearbeitet. So erklingt heute das Stück in dieser Form zum allerersten Mal. Eine Assoziation von mir ist eine Lavalampe mit vielen Farben. Töne der unterschiedlichen Instrumente bilden Blasen. Lockend, warm, pulsierend. In den Wiederholungen gelingt es mir, die Zeit für diesen Moment fest zu halten. Ein tolles Gefühl! Zu den Instrumenten erzeugen die Musikerinnen und Musiker nach dem verbalen Schsch der Violinistin keuchend Konsonanten zum Ende des ersten Satzes „Der Weg“. Im zweiten Satz „Das Lied“ entwickeln sich Töne zart wie sich formende Glaskugeln zu einem überraschend tonalen gemeinsamen Ensembleklang. Der am Ende zurückfindet ins Klangpulsen.
»Semafor« ist eine der letzten Kompositionen der Finnin Kaija Saariaho. Der Titel leitet sich ab von farbenfrohen Skulpturen des Künstlers Ernst Mether-Borgström. Die Klarinette schluchzt. Die Piccoloflöte quiekt. Ein musikalischer Schmetterling, gefolgt von Vögeln. Die unterschiedlichen Tempi erzeugen in mir starke Spannung. Das Tonale bricht in Extremtönen einzelner Instrumente. Es folgt eine Tempoverschärfung, nur unterbrochen von einem kurzen musikalischen Innehalten. Bis Piccoloflötentriller immer ruhiger werdend ins Ende driften.

Jan Müller-Wielands »Menschen« ist kurz nach dem Ende des zweiten Coronalockdowns entstanden. Es geht um die Verantwortung, die wir Menschen als Gruppe tragen. Ich wundere mich im Schreiben: klingt so ein musikalischer spannungsgeladener Bogen, an dem meine Aufmerksamkeit kleben bleibt? Der Nukleus Coronas? Das Husten. So also beginnt das Stück. Es folgt Heulen. Die Explosion eines satten Gongschlags. Vereinzelte sich wiederholende Töne der Celesta. Stimmliches Bibbern. Der sonore Kontrabass. Räusperndes Hüsteln. Zarten Holzblasklängen folgt die Celesta hektisch. Aushauchen. Erleichtertes Aushauchen. In die Streicherpartie grätschen die Holzbläser hell herein. Heulen. Trommel mit Gong. Aus der spitzen Klarinette formt sich ein melodischer Ensembleton. Husten. Keuchen. Räuspern. Die folgende Melodie konzentriert sich in einen Alarmton. Schnaufen. Die Melodie der Flöte fragt sich selbst , erst mit Trommel, dann im Solo. Die Celesta übernimmt. Lachen. Ein Äh geht staffelmäßig durch die einzelnen Münder.
Ich justiere mein Hören in jedem Stück erneut. Finde Melodien. Höre Klangfarben. Bin konzentriert gespannt, was als nächstes auf mein Ohr trifft, welches Ton-Tier ich entdecken darf. So wach bin ich, so intensiv ist das Erlebnis. Die Musik dieser Aufführung fesselt mich in den Moment. Das macht mich zufrieden, glücklich und offenherzig.
Sowohl der anwesenden Betty Olivero als auch Jan Müller-Wieland sehe ich ihr Glück, ihre Freude mit der Aufführung ihrer Werke an. Es ist fantastisch, was Leiterin Konstantia Gourzi aus den jungen Musikerinnen und Musikern herauskitzelt! Die Aufführungen des ensemble oktopus sind eine wahre Schatzfundgrube der zeitgenössischen Musik in München.
Frank Heublein, 25. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
ensemble oktopus/Ballett-Akademie Reaktorhalle, München, 25. Mai 2025
Soundpainting – ensemble oktopus Reaktorhalle, München, 12. Januar 2024
„Verbindung“ – Konzert anläßlich 20 Jahre ensemble oktopus Reaktorhalle, München, 08. Februar 2023