Foto: © Massimo Goina
Schloss Horst Gelsenkirchen, 07. Februar 2020
Angelo Comisso Klavier
von Barbara Seppi
„Fine Art Jazz“ ist eine Konzertreihe, die seit Jahren hochkarätige internationale Jazz-Musiker ins nördliche Ruhrgebiet bringt. Von Zeit zu Zeit sind Musiker darunter, die weit die Tore zur Klassik aufstoßen, Klangszenarien brillant verbinden. Mit Angelo Comisso war jetzt ein solcher auf Schloss Horst in Gelsenkirchen zu Gast. Comisso, der in seiner italienischen Heimat schon in einer Fernseh-Liveübertragung ein suggestives, zweieinhalbstündiges Sonnenaufgangskonzert vor dreitausend Menschen gespielt hat, gab ein hochemotionales Deutschland-Debut als Piano-Solo-Künstler.
Der Saal, eine moderne Glaskonstruktion, die die schmucke, bogenreiche Außenwand eines der ältesten und schönsten Renaissance-Schlösser in der Region als Bühne und feingeistigen Konzertrahmen nutzt, ist ganz in inniges Licht getaucht, oszillierend von leidenschaftlichem Rot zu sphärischem Blau. Comisso kommt leise auf die Bühne, keine störenden Worte, eine knappe Verbeugung, der Pianist ist schon in seiner Welt versunken. Die Stille im Raum stellt sich auf natürliche Weise ein, angenehme, erwartungsvolle Spannung entfaltet sich bei den Zuhörern.
Zwei Noten im oberen Oktavlauf, hell und klar im steten Wechsel, wie das Ticken einer Uhr, ein hypnotisierendes Pulsieren, setzen den Ausgangspunkt zu brillanten musikalischen Metamorphosen. Es entwickelt sich ein scheues, schlichtes Thema, zart, wie eine Serenade von Debussy. Akkorde verflechten und verdichten sich, intensive Sequenzen bäumen sich zu immensen Crescendi, die dem Flügel mit viel Pedal desweilen die Monumentalität einer Orgel verleihen. Dann wieder tropfen einzelne Töne wie sanfte Perlen in einen absoluten See der Lautlosigkeit.
Comisso erzählt mit Genialität und spielerischer Virtuosität, in einem komplett improvisierten Fluss, von mitreißender Leidenschaft und Ekstase, wie auch von Zärtlichkeit und Liebe. Er zieht das Publikum in seine eigene Traumreise, die Seiten eines inneren Tagebuchs öffnen sich, zeigen einen Teil seiner selbst, Erinnerungen, Emotionen, Reflexionen einer zerfleischenden Jetzt-Zeit, intime Tröstungen.
Es gibt Geschichten hinter den melodische Eigenkompositionen – „Adios Adieu“ ist Sehnsucht nach dem Abschied von Trennungen, oder „Anita“ das von sanfter Vorahnung erfüllte Erwachen neuen Lebens – die in ihrer Synthese verstanden werden, ohne den Inhalt zu kennen. Der Rausch der Tasten fährt durch den Bauch, berührt buchstäblich die Fasern jedes Inneren, treibt zu Bildern und Empfindungen des eigenen Ichs. Töne und Akkorde erschaffen Gemälde der filigranen Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz.
Comisso ist diplomierter Klassik-Pianist, mit Abschlussarbeiten von Strawinsky und Mussorgsky am Konservatorium Benedetto Marcello in Venedig. Der Klassik-Kenner hört desweilen kurze Passagen einer Bach-Toccata, oder erahnt dramatische Bassläufe eines Romantikers. Eingeprägte, geliebte Tonfolgen, die sich in unglaubliche, eigenständige Klangentfaltungen verwandeln und den Raum in eine Wolke von malerischer Schönheit hüllen. „Schönheit wird die Welt erlösen“, ein Satz von Fjodor Dostojewski, verankert in der griechischen Philosophie, ist Comissos Credo. Auch Verzweiflung und Trauer zeigen sich bei ihm in einem ästhetischen Gewand.
Ein fantastischer Hörgenuss von harmonischer Klangfülle, genau wie bei klassischen Klavierabenden nicht unterbrochen durch lästige Worte oder Ankündigungen.
Barbara Seppi, 16. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de