Sakrale Ekstase in Paris: Teodor Currentzis erhebt Rameau zum Heiligen

Castor et Pollux, Teodor Currentzis, Conductor  Palais Garnier, 1. Februar 2025

Foto: ©  Teodor Currentzis und Utopia (c) Markus Aubrecht

Die Götter sind herabgestiegen: Teodor Currentzis und Peter Sellars verzaubern Paris. Rameaus Barockoper Castor et Pollux schlägt der griechisch-russische Stardirigent auf, wie der Papst die Bibel: behutsam, heilig, göttlich. „The duty of beauty“ sei auch der einzige Weg, um die Welt zu retten – Worte, die Currentzis auch musikalisch umsetzt.

Castor et Pollux, Jean-Philippe Rameau
Palais Garnier, 1. Februar 2025
Utopia Chor und Orcheste

Teodor Currentzis, Conductor

von Jürgen Pathy

Es ist 12:00 Uhr Mitternacht. Die Reihen vor dem Künstlerausgang der Opéra Garnier haben sich gelichtet. Nur eine Dame ist noch geblieben – et moi. Die Lichter sind bereits erloschen, als Teodor Currentzis das Haus verlässt. Die Verpflichtung zur Schönheit. Nichts Geringeres sei es, warum er auf Rameaus Castor et Pollux setzt. „It’s the perfect opera for this time – because just beauty can save the world.“ Nach diesen Worten ist klar, was zuvor rund drei Stunden Nettospielzeit abgelaufen ist.

Der erste Eindruck zählt nicht immer

„Oh mein Gott – was geht hier schon wieder ab?“, war die erste Reaktion beim Blick auf die Bühne: eine Küchenzeile, ein Sofa samt Couchtisch, ein Bett. Übliches Gerümpel, das bei Barockopern fast schon wie das Amen im Gebet zu erwarten ist. In Wien sieht das nicht anders aus. Im Hintergrund läuft über die gesamte Rückwand eine Projektion: eine Autobahnbrücke bei Nacht, regelmäßig blenden einen Scheinwerferlichter. Der Sinn dahinter – zuerst fragwürdig. Es ist auch nur der Prolog, der in der überarbeiteten Version von 1754 gestrichen wurde. Currentzis und Sellars setzen natürlich auf die Originalversion von 1737.

Ab dem ersten Akt lichtet sich der Nebel. Die Kameraeinstellung zoomt hinaus, fängt die Erde samt Beleuchtung aus dem All ein. Irgendwann leuchten nur noch tausende Sterne auf der kompletten Rückwand. Das ist nicht nur pure Magie – Liebe und Schönheit stehen hier im Mittelpunkt –, das ist auch schlüssig. Ein Regiekonzept, das sich auf das Kernthema des Librettos fokussiert. Zwei Zwillingsbrüder: Der eine, Castor (sterblich), fällt im Kampf. Der andere, Pollux (unsterblich), verzichtet auf diese Gabe, nur um ihn zu retten. Jupiter gewährt schließlich beiden einen Platz – am Himmel, als Sternbild der Zwillinge.

Kinnlade runter, Ohren auf

Von da an sitzt man nur noch sprachlos im Parkett. Jeanine De Bique als Télaïre ist ein Grund dafür. Sie ist die Geliebte von Castor. Nachdem dieser stirbt, bricht sie beinahe vor Schmerz. „Tristes apprêts, pâles flambeaux“, die berühmte Klagearie, ist sicher ein Highlight der Oper. Ausdrucksstarke Linien, langsame, weit gespannte Phrasen – gestaltet, wie könnte es anders sein: leise, innig, fast schon verklärt. Nicht der einzige Moment, in dem die Zeit kurz innehält, einfach stillsteht. Davon gibt es während der drei Stunden viele.

Unmengen beim Utopia Chor: Eine Intonation, als würden sich die Himmelspforten öffnen. Eben so viele bei Laurence Kilsby. 26, blutjung, eine Stimme, vor der selbst die Götter zum Kniefall ansetzen. „Ein Countertenor?“ – nein, falsch. Doch das schießt einem durch den Kopf, wenn der hell timbrierte Tenor als Jupiters Hohepriester stimmlich in höchste Galaxien davonschwebt. Haute-Contre Reinoud Van Mechelen lässt als Castor ebenso keine Zweifel aufkommen, dass er die richtige Wahl gewesen ist. Bariton Marc Mauillon setzt als Pollux einen minimalen Kontrast – helles Timbre, geschmeidig in der Linienführung. Nicholas Newton, Bassbariton, lässt am Ende als Jupiter klar werden: Ich bin hier der Chef. Tiefe Stimme, mit Güte.

Currentzis – Genie ohne Alternative

Im Graben, im Haus, in der Opernwelt – da führt aber kein Weg an Teodor Currentzis vorbei. Politikum hin oder her. Diesem Locus geni, dieser künstlerischen Ausnahmeerscheinung, andernorts die Türen zu versperren – das ist das schwerwiegendste Eigentor, das sich die Klassikwelt nur schießen kann. Der Klang, den er mit dem Utopia Orchester auf historischen Instrumenten ausbreitet: rein, klar, unschuldig – wie ein weißes Seidentuch, das durch die Luft schwebt. Liebe, Schönheit und Erlösung durch Musik – nichts anderes ist nämlich seine Mission.

In Paris gemeinsam mit Peter Sellars, dessen Regie auch Schwung und Abwechslung parat hält: eine junge Tanzformation, die im Hipster-Outfit den Moonwalk zelebriert. Sinn dahinter? Keine Ahnung. Dance, baby, dancebeweist aber, wie frisch und lebendig Barockoper sein kann.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 3. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik klassik-begeistert.de, 1. Januar 2024

Jacques Offenbach, LES BRIGANDS, Opéra bouffe in drei Akten Paris, Palais Garnier, 21. September 2024

Giselle (Ballett) Jean Coralli, Jules Perrot Palais Garnier, Paris, 28. Mai 2024

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