Das aron quartett: Ludwig Müller, Barna Kobori, Georg Hamann, Christophe Pantillon © Julia Wesely
CD-Besprechung:
Eine neue Einspielung von drei Streichquartetten Egon Wellesz’ zeigt eindrucksvoll die musikalische Bandbreite des Komponisten und Musikwissenschaftlers in den Jahren von 1916 bis 1948.
Egon Wellesz
Streichquartett No. 2, op. 20
Streichquartett No. 5, op. 60
Streichquartett No. 7, op. 66
aron quartett
Ludwig Müller, Violine
Barna Kobori, Violine
Georg Hamann, Viola
Christophe Pantillon, Violoncello
CD cpo 555 617-2
von Dr. Rudi Frühwirth
Heuer jährt sich der 140. Geburtstag von Egon Wellesz. Das aron quartett hat kürzlich eine Aufnahme dreier seiner Streichquartette vorgelegt, nämlich der Nummern 2, 5 und 7, die den Zeitraum von 1916 bis 1948 abdecken.
Das zweite Quartett, op. 20, entstand während des Ersten Weltkriegs. Es steht in g-Moll, verschleiert jedoch durch reiche Chromatik und überraschende Modulationen häufig sein tonales Zentrum. Neben dissonanten, expressionistischen Passagen finden sich auch rein diatonische Momente und Ruhepole in Form unerwarteter Dur-Akkorde. Dass Wellesz ein Meister des Kontrapunkts war, zeigen zahlreiche imitatorische und fugierte Abschnitte.
Die Charakteristik der vier Sätze orientiert sich weitgehend an traditionellen Vorbildern. Bereits die ersten Takte des Kopfsatzes lassen die beeindruckende Ausdruckskraft der vier Musiker erkennen. Der Satz kulminiert in einem strahlenden D-Dur-Akkord und geht nahtlos in den zweiten Satz über, der zwischen unruhig drängenden Passagen auch ein lieblich gesungenes Thema mit klassischer Harmonisierung entfaltet. Der dritte Satz ist ein typisches Scherzo in c-Moll mit einem Trio in Es-Dur. Der Finalsatz kann seinen Mahler-Einfluss kaum verleugnen: Er beginnt ruhevoll, steigert sich nach einem kurzen Trauermarsch zu einem „Allegro energico“ und endet in einem breit ausgeführten d-Moll.
Wellesz, 1885 in Wien geboren, war neben seiner kompositorischen Tätigkeit auch ein Musikwissenschafter ersten Ranges, der die Erforschung der byzantinischen Musik nahezu im Alleingang begründete. Nach seiner Promotion im Jahr 1908 an der Universität Wien habilitierte er sich 1913 und wurde 1929 zum außerordentlichen Professor für Musikwissenschaft ernannt – verbunden mit der Leitung des Musikwissenschaftlichen Instituts. Im selben Jahr erhielt er von der Universität Oxford das Ehrendoktorat, als erster Österreicher seit Joseph Haydn.
Seine Laufbahn wurde jäh unterbrochen durch die Annexion Österreichs durch das Deutsche Reich im März 1938. Wellesz kehrte aus den Niederlanden nicht mehr nach Wien zurück, sondern folgte einer Einladung nach England. Dort wurde er zunächst als „feindlicher Ausländer“ auf der Isle of Man interniert, jedoch bald wieder entlassen. Mit Beginn des Jahres 1939 wurde er als Fellow (später Honorary Fellow) an das Lincoln College der Universität Oxford berufen.
Der Schock der erzwungenen Emigration führte zu einer tiefen Schaffenskrise, und Wellesz verstummte für nahezu fünf Jahre. Erst 1943 begann er mit der Arbeit an seinem fünften Streichquartett. Dieses beschreitet naturgemäß ganz andere Wege als das zweite, das fast zwei Jahrzehnte früher entstanden war. Das zweite Quartett lässt sich noch in der Sphäre von Schönbergs erstem Streichquartett verorten – Tonalität, die durch ausschweifende Chromatik in Frage gestellt, aber nicht vollständig aufgegeben wird. Im fünften hingegen hat sich Wellesz dem Bereich der freien Atonalität angenähert, angereichert durch serielle Techniken, die sich dem ungeschulten Hörer jedoch weitgehend entziehen. Die Uraufführung fand im Juni 1947 im Wiener Konzerthaus statt; es spielte das Barylli-Quartett.

Egon-Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Die drei Sätze möchte ich – rein subjektiv – wie folgt charakterisieren. Der erste vermittelt durch die harten Unisono-Rhythmen der vier Instrumente den Eindruck ohnmächtigen Zorns, der gegen Ende in leiser Resignation erlischt, während der pochende Rhythmus im Cello noch nachklingt. Die durch große Intervallsprünge zerklüfteten melodischen Linien deuten auf innere Zerrissenheit hin.
Der zweite Satz ist ein leicht hingeworfener Walzer, vielleicht eine Erinnerung an die verlorene Heimatstadt. Auch hier taucht der hartnäckige Rhythmus des ersten Satzes wieder auf.
Der dritte Satz, mit „In Memoriam“ überschrieben, ist ein tieftrauriger Abgesang auf die Vergangenheit, getragen von wunderbaren Kantilenen der ersten Violine und des Cellos, auch sie immer wieder durch große Intervallsprünge aufgebrochen. In Takt 30 leuchtet kurz ein H-Dur-Akkord auf, doch das Licht erlischt sofort wieder, und schneidende Dissonanzen zerstören die flüchtige diatonische Ruhe. Der Satz verklingt in einem ätherischen G-Dur-Akkord der Violinen und der Viola, sanft vom Pizzicato des Cellos unterlegt.
Das siebente Streichquartett op. 66 komponierte Wellesz im Jahr 1948. Es erschien im Folgejahr in London, und wurde 1953 in Köln uraufgeführt, wiederum vom Barylli-Quartett. Es hat nur zwei Sätze. Der erste ist mit “Allegro Moderato” bezeichnet und in c-Moll notiert. Er beginnt energisch mit einem kurzen Motiv in Cello und Viola, das von den Violinen beantwortet und in allen Stimmen weitergeführt wird. Die Viola beginnt mit obsessiv durchlaufenden Achteln, die die weitere Entwicklung vorwärtsdrängend begleiten und auch das Cello und Violinen mitziehen. Ab Takt 100 wird etwas langsamer ein zweites Thema vorgetragen, das aber nach etwas 20 Takten wieder in das Thema des Beginns übergeht.
Betrachtet man den Satz als Sonatenform, markiert diese Stelle den Beginn der Durchführung. Das zweite Thema wird noch einmal präsentiert, ehe in der folgenden Coda das Hauptthema noch einmal resümiert und abrupt beendet wird.
Der zweite Satz ist ein “Adagio”, gefolgt von einer Fuge, die noch einmal die kontrapunktische Meisterschaft des Komponisten demonstriert. Der Satz beginnt mit einem Solo der ersten Violine, dessen erste vier Takte den Beginn des chromatisch raffinierten Fugenthemas vorausnehmen. Die weitere Entwicklung verlangt vor allem der ersten Violine höchste Ausdruckskraft und Virtuosität ab. In der abschließenden Fuge wird das Thema in aufsteigender Reihe vorgestellt, beginnend mit dem Cello. Die Exposition endet über einem Orgelpunkt des Cellos mit einer wunderschönen Passage in h-Moll, sicher eine bewusste Hommage an Bach. Die folgende Durchführung verarbeitet das Thema in vielfältiger Weise und mündet in einen mit “Maestoso” bezeichneten Schlussteil, der mit punktierten Rhythmen barocke Aura heraufbeschwört und mit dem in höchster Kraft unisono vorgetragenen Thema endet.
Die Interpretation der drei Quartette durch das aron quartett ist außerordentlich gelungen.
Die ausgeprägten stilistischen Unterschiede der drei Werke verlangen von den Musikern viel Einfühlungsvermögen, und tatsächlich finden sie für jeden Satz die ihm angemessene Sprache und den richtigen Klang. Neben technisch perfektem Zusammenspiel steht ausdrucksstarke Musikalität und höchste Spannung. Die gewählten Tempi folgen bis auf wenige Ausnahmen getreu den Anweisungen des Komponisten und wirken durch subtile Nuancierung sehr lebendig. Auch die feingezeichnete Phrasierung und die differenzierte Dynamik sprechen für die Meisterschaft der vier Streicher.
Kurzum, eine Wiedergabe, die keine Wünsche offenlässt und die Streichquartette – unbelastet von theoretischen Überlegungen – einfach als interessante, mitreißende und emotional berührende Musik ersten Ranges zu Gehör bringt.

Wenn man mich bäte, aus jedem Quartett einen besonders schönen Satz zu nennen, so fiele meine Wahl jeweils auf den Finalsatz: der des zweiten mit seinem Mahlerischen Duktus, der des fünften mit der wehmütigen Erinnerung an eine zerstörte Heimat, und der des siebenten mit der großartigen Fuge.
Für alle, die den Komponisten Egon Wellesz noch nicht kennen, ist die CD des aron quartett ein wunderbarer Einstieg in seine musikalische Welt; Kennern wiederum bietet sie eine wertvolle Bereicherung ihrer Sammlung. Es wäre höchst erfreulich, wenn noch weitere Einspielungen geplant sind!
Dr. Rudi Frühwirth, 20. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
aron quartett Gesellschaftshaus im Otto-Wagner-Areal, Wien, 20. August 2025
CD-Buch: OSKAR C. POSA: Lieder, Violinsonate, Streichquartett klassik-begeistert.de, 8. Oktober 2025