Kevin Puts entfaltet Klangwelten

CD-Besprechung: Kevin Puts Orchesterwerke  klassik-begeistert.de, 16. September 2025

CD-Besprechung:

Kevin Puts
Orchesterwerke

St. Louis Symphony Orchestra
Stéphane Denève, musikalische Leitung

Delos, DE3620

von Dirk Schauß

Manchmal hört man eine zeitgenössische Aufnahme, und mit dem ersten Ton stellt sich ein leises Staunen ein: Wie kann etwas so modern, so anspruchsvoll – und zugleich so unmittelbar berührend sein? Genau dieses Staunen ruft das neue Delos-Album des St. Louis Symphony Orchestra unter Stéphane Denève hervor, auf dem drei Werke von Kevin Puts präsentiert werden. Sie widmet sich drei Werken des amerikanischen Komponisten Kevin Puts, der in seiner Heimat längst als zentrale Stimme gilt, hierzulande jedoch noch immer ein Geheimtipp ist.

Puts wurde 1972 in St. Louis geboren, wuchs in Michigan auf und erhielt seine Ausbildung an der Eastman School of Music sowie an der Yale University, wo er bei namhaften Lehrern wie Samuel Adler, Jacob Druckman und Joseph Schwantner studierte.

Früh fiel sein kompositorisches Talent auf, Auszeichnungen und Stipendien folgten. Den internationalen Durchbruch brachte ihm 2012 die Oper „Silent Night“, die auf der Weihnachtswaffenruhe von 1914 basiert und ihm den Pulitzer-Preis einbrachte. Später kam ein Grammy hinzu, und heute lehrt er als Professor am Peabody Institute in Baltimore. Trotz dieser Karriere ist seine Musik in Europa kaum präsent – und vielleicht macht gerade das diese Veröffentlichung so spannend: Man begegnet einem Komponisten, dessen Sprache einerseits unverkennbar modern ist, der andererseits aber eine Verständlichkeit besitzt, die man bei zeitgenössischer Musik kaum zu erwarten wagt.

Das „Concerto for Orchestra“, ein sechssätziges Werk, ist Herz und Schwergewicht des Albums. Geschrieben im Schatten des Massakers von Uvalde, bei dem 2022 neunzehn Kinder und zwei Erwachsene ihr Leben verloren, trägt es ein unausweichliches Pathos, aber nie Schwere um ihrer selbst willen. Die Eröffnung mit weit ausschwingenden Streichermelodien, kräftigen Bläserrufen und ostinaten Rhythmen entfaltet sofort eine Präsenz, die an die großen amerikanischen Symphoniker erinnert.

Man fühlt sich an Aaron Copland erinnert – an dessen offene, weitatmende Melodik, die etwas unverwechselbar Amerikanisches hat. Zugleich ist da die schillernde Farbenpracht, die eher an Ravel denken lässt: Glockenspiel und Schlagwerk, die wie Kristalle aufleuchten, Holzbläser, die Lichtreflexe setzen. Doch der dramaturgische Aufbau, der über sechs Sätze hinweg einen klaren Bogen spannt, erinnert in seiner Logik an Benjamin Britten, dessen Fähigkeit, Emotion und Struktur eng zu verweben, hier wiederklingt. Das Staunen liegt darin, dass man von Beginn an hineingezogen wird: Hier gibt es kein sperriges Modernismus-Rätsel, sondern eine Musik, die verständlich bleibt und dennoch auf höchstem Niveau arbeitet.

Die „Silent Night Elegy“ knüpft an Puts’ Pulitzer-gekrönte Oper an. Man hört gleich zu Beginn das Horn wie eine ferne Stimme, einsam, suchend, bevor die Streicher eine klagende Melodie entfalten, die sich bald zum Lamento steigert. Ein dissonanter Marsch bricht herein, scharfkantig, beinahe brutal, und erinnert in seiner Unerbittlichkeit an die Dramatik Brittens, Erinnerungen an das „War Requiem“ stellen sich ein. Doch wie Puts diese eruptive Gewalt wieder in harmonische Ströme überführt, ist ganz sein eigener Tonfall. Ein Bläserchoral wächst heran, schlicht, fast wie ein kollektives Atemholen. Die hohen Streicher, die am Ende wie ein feiner Nebel zurückbleiben, haben eine tröstliche Wirkung – Musik, die Schmerz nicht übertüncht, sondern durchlebt und daraus dennoch eine Lichtspur zieht.

Ganz anders klingt das abschließende „Virelai“, eine Hommage an Guillaume de Machaut. Puts nimmt eine Melodie aus dem 14. Jahrhundert und kleidet sie in rhythmische Strukturen. Die Transparenz und die flirrende Bewegung lassen an Debussy denken, der ja selbst im mittelalterlichen Material Inspiration suchte. Zugleich blitzt hier ein leichter Humor auf, fast wie ein orchestraler Scherz – eine augenzwinkernde Geste, die den Hörer nach der Ernsthaftigkeit der beiden großen Werke erleichtert entlässt.

Das St. Louis Symphony Orchestra zeigt sich als idealer Anwalt dieser Musik. Jeder Einsatz wirkt durchdrungen, jedes Detail plastisch herausgearbeitet, als habe das Ensemble Puts’ Sprache schon seit Jahrzehnten im Blut. Stéphane Denève dirigiert mit Übersicht, aber auch mit Wärme, nie nüchtern, sondern mit spürbarer Begeisterung. Die Tontechnik fängt das alles in der Powell Hall mit einer Klarheit ein, die weite Räume und kleinste Nuancen gleichermaßen erfasst. Man hört jedes Horn, jede Klarinette, jede Glocke – und dennoch bleibt der Gesamtklang geschmeidig und voll.

Am Ende bleibt der Eindruck, einer Musik begegnet zu sein, die zwischen den Traditionen wandelt: die Weite Coplands, die Farbigkeit Ravels, die Dramaturgie Brittens, die Klarheit eines Adams – und doch unverkennbar eigenständig. Kevin Puts beweist, dass Gegenwartsmusik erzählen kann, dass sie berühren darf, dass sie Schönheit nicht scheut.

Wer diese CD hört, wird überrascht sein, wie unmittelbar und verständlich heutige Musik sein kann – und wie sehr sie das Herz erreicht.

Dirk Schauß, 16. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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