CD-Besprechung:
Le Cœur et la Raison
La Néréide
Alpha Classics, Alpha 1169
von Dirk Schauß
Manchmal beginnt eine große Geschichte ganz leise – mit drei Stimmen, die sich bestens verstehen. Camille Allérat, Julie Roset und Ana Vieira Leite gründeten 2019 ihr Ensemble La Néréide und haben sich seither zu einem der spannendsten jungen Vokaltrios der Barockszene entwickelt. Drei Sopranistinnen, drei Charaktere, ein gemeinsamer Atem. Ihr neues Album trägt den poetischen Titel „Le Cœur et la Raison“ – Herz und Verstand – und genau darum geht’s: um das ewige Ringen zwischen Gefühl und Pflicht, zwischen dem, was man fühlt, und dem, was sich gehört.
Die Platte erzählt die Geschichte einer jungen Adligen im Frankreich Ludwigs XIV., die ins Kloster Saint-Cyr geschickt wird. Dort soll sie lernen, fromm zu sein – und gelehrt, versteht sich. Musik ist Teil dieser Ausbildung, und so singt sie die Werke des Organisten Louis-Nicolas Clérambault und des etwas in Vergessenheit geratenen Jean-François Lalouette, Schüler von Lully. Doch wer einmal die verführerischen Hofmelodien gehört hat, vergisst sie nicht so leicht. Nach der Rückkehr in die Familie greift sie heimlich wieder zu diesen weltlichen Airs Sérieux, singt sie ihren Mitschülerinnen vor und verwandelt die Liebeserklärungen kurzerhand in religiöse Bekenntnisse. Ein barocker Akt der Rebellion – und der Ausgangspunkt für ein kluges, emotionales Album.
„Le Cœur et la Raison“ spielt also mit Gegensätzen: liturgische Strenge auf der einen, herzbewegte Weltlichkeit auf der anderen Seite. Doch anstatt brav zwischen beiden Polen zu pendeln, verwebt La Néréide sie miteinander. Man merkt sofort, dass hier niemand einfach nur „reproduziert“, sondern interpretiert, tastet, atmet.
Den Auftakt macht Clérambaults „Miserere mei Deus“ – ein großes, vielteiliges Gebet, das sich langsam öffnet wie ein Fenster in eine andere Zeit. Drei Stimmen, die sich zu einem fließenden, schimmernden Gewebe verbinden. Dazu die Orgel von Emmanuel Arakelian, prachtvoll und bisweilen etwas zu präsent. In den stilleren Passagen – etwa im „Ecce enim in iniquitatibus“ – glüht dafür umso mehr jene fragile Schönheit, die dieses Ensemble auszeichnet: der Moment, in dem drei Stimmen zu einer werden, ohne dass sie ihre Individualität verlieren.

Dann, nach so viel sakraler Strahlkraft, wechselt die Stimmung. Plötzlich sind wir im Salon, im kleinen Kreis, bei Kerzenlicht. Die „Airs Sérieux“ von Lully, Lambert, Du Parc und anderen bringen eine intimere Atmosphäre – zarte Miniaturen über Sehnsucht, Hingabe und Schmerz. Wenn Camille Allérat in „J’aime, je suis aimée“ diese einfache Phrase singt, klingt es so natürlich, dass man meint, sie improvisiere im Moment. Julie Roset schwelgt in „Lorsqu’avec une ardeur extrême“ zwischen Stolz und Verletzlichkeit, und Ana Vieira Leite trifft in „Quand une âme est bien atteinte“ den Punkt, an dem Musik und Empfindung untrennbar werden.
Miguel Henry (Laute) und Salomé Gasselin (Gambe) begleiten dabei mit einer Noblesse, die nichts Dekoratives hat. Ihre Spielweise ist nicht „begleitend“, sondern reagierend – wie zwei gute Freunde, die zuhören und nur dort etwas sagen, wo Worte fehlen. Besonders in den leiseren Momenten – etwa in Sébastien Le Camus’ „Je m’abandonne à vous“ – entsteht ein geradezu privates Klanggefühl, als säße man selbst im Raum, einen Atemzug entfernt.
Wieder zurück in die Kirche geht’s mit Lalouettes „Miserere“. Dessen Tonsprache ist weniger elegant, dafür umso direkter. Wo Clérambault in fließenden Phrasen betet, ruft Lalouette beinahe dramatisch – und La Néréide folgt ihm mit einer Energie, die an kleine Opernszenen erinnert. Das ist kein distanziertes, museales Singen, sondern Musik voller Bewegung, geradezu körperlich.
Was bei all dem auffällt: Diese drei Stimmen passen nicht nur farblich zueinander, sie hören einander zu. Sie verschmelzen, aber sie reiben sich auch – kleine Unebenheiten, bewusste Atemstellen, winzige Intonationsschattierungen. Genau das macht den Reiz aus. Denn Perfektion kann langweilen; Spannung entsteht im Lebendigen.
Das Programm ist klug gebaut: Es erzählt keine lineare Geschichte, sondern lässt Emotionen sich überlagern – ein Dialog zwischen Himmel und Erde, zwischen der jungen Frau aus Saint-Cyr und den Sängerinnen von heute. Und obwohl die CD ganze 27 Tracks umfasst, wirkt sie nie überladen. Eher wie ein fein gewebter Fächer, den man langsam entfaltet, Stück für Stück.
Klanglich hat das Label Alpha wieder einen goldenen Mittelweg gefunden: klar, aber nicht steril; räumlich, ohne zu verschwimmen. Manchmal ist der Nachhall so üppig, dass die Stimmen wie in Weihrauch gehüllt wirken – doch vielleicht gehört das ja genau so.
Am Ende bleibt der Eindruck, dass „Le Cœur et la Raison“ mehr ist als eine Barock-CD. Es ist ein Porträt weiblicher Empfindung, komponiert in einer Zeit, in der Frauen zwar singen, aber selten sprechen durften. Und gerade deshalb wirkt es so modern: drei junge Musikerinnen, die sich diese Musik aneignen, sie durchdringen und ihr neues Leben einhauchen.
Wer sich darauf einlässt, wird reich belohnt. Denn diese Musik, irgendwo zwischen Orgelpracht und Liederintimität, spricht direkt zum Innersten – dorthin, wo Herz und Verstand ohnehin nie wirklich voneinander zu trennen sind.
Dirk Schauß, 17. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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