CD-Besprechung:
Vor knapp 70 Jahren erlebte ein Stück Musiktheater seine Bühnenpremiere, das als Meilenstein in die Geschichte des Musicals eingehen sollte. Zum Erfolg trugen auch zwei Vinyl-Langspielplatten bei – die mit dem „Original Broadway Cast 1956“ und jene Berliner Aufnahme aus dem Theater des Westens von 1961.
„My Fair Lady“ ist jetzt neu in einer Londoner Einspielung auf CD erschienen. Dabei werden Freunde und Fans der Geschichte einige Sequenzen entdecken, die vorher nie auf Tonträgern veröffentlicht wurden.
My Fair Lady
Musical von Alan Jay Lerner (Buch) und Frederick Loewe (Musik)
Sinfonia of London, John Wilson
Doppel-CD des Labels CHANDOS – CHSA 5358(2)
veröffentlicht im September 2025
von Ralf Krüger
Diese Musical-Aufnahme hat Struktur. Die Handlung von My Fair Lady ist in 18 verschiedene Szenen mit Ortsangabe eingebettet. Beginnend in Covent Garden bei der Oper, wo sich Eliza Doolittle, das Blumenmädchen mit der ordinären Aussprache und Professor Higgins, der selbst ernannte Wächter der englischen Sprache, das erste Mal begegnen. Dort also, wo jene Wette ihren Ursprung hat, in der Higgins seinem Freund, Colonel Pickering, beweisen will, dass er ein Mädchen der „Unterschicht“ sprachlich und kulturell so formen kann, dass es in „höheren Kreisen“ bestehen kann.
Jede der 18 Szenen, die das Booklet verzeichnet, beginnt mit kurzen, einführenden Dialogen. Für die (berühmten) Musikstücke, die wunderschön mit Chor und Ensemble garniert sind, lässt man sich genussvoll Zeit. Den Schluss bildet jeweils ein musikalischer Nachschlag in Form einiger Takte zum Szenenwechsel. Damit verliert das Werk glücklicherweise den Potpourri-Charakter früherer Schallplattenaufnahmen und der Hörer bekommt mit dieser Doppel-CD endlich eine vernünftige, gut hundertminütige My Fair Lady überreicht.
John Wilson und die Sinfonia of London sind inzwischen Profis in Sachen Musical. Vor zwei Jahren erschien OKLAHOMA! von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein – ein fast opernhaftes, ur-amerikanisches Epos, das mich mit seinem phänomenalen Klangteppich vom Hocker riss. My Fair Lady überrascht mit Fundstücken. „Wir haben jede einzelne Note, inklusive der Untermalung, sowie die gesamte Musik, die vor der Premiere komponiert, aber gestrichen wurde, mit der Instrumentierung der Premiere aufgenommen“, sagt John Wilson im Booklet. Das betrifft vor allem das Finale des ersten Aktes, bevor Eliza ihren Auftritt beim Ball in der Botschaft hat. Da war für Higgins die elegante Arie „Come to the Ball“ geplant und eine spaßige Ballettmusik sollte Elizas „letzten Schliff“ für den Abend unterstreichen.
Gemeinsam mit dem spielfreudigen Orchester und einem Chor außer Rand und Band rockt Alun Armstrong als Alfred P. Doolittle den Blumenmarkt von Covent Garden. Der Vater von Eliza sorgt für die deftige Komponente in dieser fein gestrickten musikalischen Komödie. Laurence Kilsby als Freddy macht das, was man von ihm musikalisch erfleht. Er hofft auf ein Date und besingt derweil, mit dem Schmelz eines Operettentenors in der Stimme, die Straße, in der seine Freundin lebt. Wir wissen, er wird der Verlierer sein. Jamie Parker ist der musikalische Schnellsprecher Henry Higgins, den man schwer versteht, wenn man das Englische nicht zu hundert Prozent beherrscht.
Und Eliza? Der Satz „The rain in Spain stays mainly in the plain“ wird zu einer Sprachübung, die es in sich hat. Und während Scarlett Strallen sich Silbe um Silbe dem Satzende nähert und wir ihre Fortschritte verfolgen, denke ich an Karin Hübner – die erste deutsche Eliza. Hochgelobt fand die Premiere im Oktober 1961, wenige Wochen nach dem Mauerbau, in West-Berlin statt. Die Schallplatten-Aufnahme davon war ein paar Jahre später auch in Ost-Berlin erhältlich. Ich erinnere mich, wie ich als kleiner Steppke vor dem Plattenspieler saß und versuchte, diesen merkwürdigen, sinnfreien Text nachzusprechen, den der Übersetzer Robert Gilbert aus der originalen Sprachübung gebastelt hatte:
„Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn.“ Ich kenne einige Leute, die dieses Zitat noch heute auswendig und fehlerfrei aufsagen können.
Eliza Doolittle hat an dieser Stelle ihren Sprachtest bestanden. Werden sich jetzt ihre Wünsche und Träume verwirklichen lassen? Vorerst kann sie glücklich sein und in Gedanken singen und tanzen wir mit ihr durch die Nacht:
„I could have danced all night…“
Ralf Krüger, 7. November 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Musical: Romeo & Julia – Liebe ist alles Theater des Westens, Berlin, 13. Juli 2025
ROCK ME AMADEUS – DAS FALCO MUSICAL Ronacher, Wien, 9. Mai 2025