Diese CDs sind frei verkäufliche Rauschmittel – unbedingt hörenswert! „I due Figaro“: Riccardo Muti erweckt Saverio Mercadantes fast vergessene Pretiose zu neuem Leben

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Achtung: Diese CDs sind frei verkäufliche Rauschmittel. Unbedingt hörenswert! Und an die Intendanten der etablierten Opernhäuser: Bringt diese Oper endlich in die Spielpläne und auf die Bühnen! Das Publikum wird es danken.

Saverio Mercadante: I due Figaro
Uraufführung: Teatro Español, Madrid 1835
Libretto: Felice Romani

Live-Aufzeichnung: Teatro Alighieri, Ravenna, Italien, 24. und 26. Juni 2011
Produktion: Riccardo Muti Music (3 Box-CD)
www.ducalemusic.it
Barcode: 8011772000459

von Dr. Holger Voigt

Wohl nur eingefleischten Musikliebhabern dürfte der Name Saverio Mercadante ein Begriff sein. Warum ihm das Schicksal des frühen Vergessens zuteil wurde, ist kaum begreiflich und stimmt wehmütig und nachdenklich zugleich. Sein umfangreiches kompositorisches Schaffen schließt Kammer- und Orchesterwerke sowie Kirchenmusik genauso ein wie die Komposition von Opernwerken. Wer sich auf seine Spuren macht, wird reichlich belohnt werden.

Saverio Mercadante, eigentlich Giuseppe Saverio Raffaele Mercadante, (geboren am 17. September 1795, Altamura, Italien – verstorben am 17. Dezember 1870, Neapel, Italien) war Zeitgenosse des kompositorischen Dreigestirns Italiens, bestehend aus Vincenzo Bellini (3. November 1801 – 23. September 1835), Gaetano Donizetti (29. November 1797 – 8. April 1848) und Gioachino Rossini (29. Februar 1792 – 13. November 1868), das in all seinen Strömungen den Weg für Giuseppe Verdi (10. Oktober 1813 – 27. Januar 1901) bereitete. Damit bewegte er sich schon früh in der Königsklasse der italienischen Opernliteratur. Und das zu Recht – es ist unmittelbar zu hören. Die, die ihn (noch) nicht kennen, können sich glücklich schätzen, denn nun kann man der Entdeckerfreude nichts mehr entgegensetzen.

Niemand anderer als der umtriebige Riccardo Muti wusste das schon immer und brach 2011 den Fluch des Vergessens, als er bei den Salzburger Pfingstfestspielen (10. – 13. Juni 2011) die vergessene Oper „l due Figaro“ in einer atemberaubenden Inszenierung (Regie: Emilio Sagi) mit großem Erfolg und begeisterten Beifallsstürmen zur Aufführung brachte. Dabei bediente er sich – neben seinem eigenen Orchester Orchestra Giovanile Cherubini  – einer grandiosen Auswahl junger, noch weitgehend unbekannter Gesangssolisten und -solistinnen, deren Leistungen schlicht und ergreifend umwerfend waren. Viele von ihnen haben seither internationale Karrieren gemacht, was auch niemanden verwundern dürften, der diesen Stimmen gelauscht hatte. Hier hatte Riccardo Muti den Turbo entfacht und gezeigt, was alles in der Opernwelt möglich und machbar ist, wenn man nur intelligente Wege beschreitet.

Doch wer nun darauf gehofft hatte, Mercadantes Pretiose „I due Figaro“ würde die Opernspielpläne im Sturm erobern, musste resignierend feststellen, dass die Aufnahmebereitschaft etablierter Bühnen ausserordentlich schmalspurig geblieben ist, um es einmal höflich auszudrücken. Dabei enthält diese Oper alles, was das Herz eines Opernliebhabers begehren könnte.

In „I due Figaro“ bewegen sich Musik und Drama vom ersten bis zum letzten Moment kontinuierlich auf einem äußerst schmalen Ambivalenzgrat zwischen einem Melodramma buffo und einer Opera melodrammatica romantica, ohne auch nur ein einziges Mal das Gleichgewicht zu verlieren. Das ist höchste dialektische Opernkunst und spricht jeden an. Mercadante selbst spielte diesbezüglich gerne mit den Begriffen „bel canto“ und „canto drammatico“ und ließ sie immer aufs Neue auseinander entstehen.

Den Hörer erwartet eine packende, nie langatmige Musik voller Witz, Esprit, Dramatik und Feuer. Sie enthält wunderschöne Arien und Kantilene, begeisternde Duette, Terzette, Quartette und Sechstette, wunderbaren Chorgesang, rauschartige Crescendi und Accelerandi, die einen meinen lassen, Champagner ströme durch die Adern, als hätte Gioachino Rossini gerade frisch nachgeschenkt.

Dazu ein hinreißender Plot, quasi eine Art belcantesker spin-off von Mozarts „Le nozze di Figaro“, der deutlich macht, wie vielfältig eine Romanvorlage (Honoré-Antoine Richaud Martellys „Les deux Figaro“) musikalisch ausgestaltet werden kann.

Nun ist dieses Ereignis, 2011 aufgezeichnet, auch auf CD – 3 Box-CD mit zweisprachigem (italienisch, englisch) Libretto – auch für alle verfügbar, die damals nicht dabei sein konnten. Es handelt sich um eine live-Einspielung aus dem Teatro Alighieri Ravenna vom 24. und 26. Juni 2011.

Die CDs sind ein wahres Feuerwerk italienischer Opernkunst, die beim Anhören pure Begeisterung auslöst. Akustisch so plastisch und dreidimensional eingefangen, dass der Hörer sich direkt vor Ort wähnt. Somit ist diese CD –Box auch aufnahmetechnisch ein absolutes Meisterwerk.

Das von Riccardo Muti meisterlich geleitete Orchestra Giovanile Cherubini spielt geradezu entfesselt auf allerhöchstem Niveau und voller Begeisterung. Das kann man bereits in der Ouvertüre, der „Sinfonia caratteristica spagnola“ verspüren, die den Klangrausch beginnen lässt – spanisches Temperament eben! Und letztlich auch nicht verwunderlich angesichts einer derart spritzigen Musik, die ganz und gar an Gioachino Rossini erinnert (der übrigens Mercadante zur Komposition einer Oper für das Pariser Théâtre-Italien einlud. So entstand schließlich Mercadantes Oper „I Briganti“).

Die GesangssolistInnen singen packend und voller Klangschönheit auf allerhöchstem Niveau, sowohl in einzelnen Arien und Kantilenen als auch in den dynamischen und total witzigen Mehr-Personen-Gesängen. Wenn man sich dazu noch vorstellt, dass sie auf der Bühnen ja auch darstellerisch tätig sind, steigt nicht nur die Bewunderung des Zuhörers, sondern auch dessen Wunsch nach Veröffentlichung einer Mitschnitt-DVD. Wann wird sie kommen?

Obwohl alle SolistInnen gleichermaßen Bestnoten verdienen und der Hörer von ihren Gesangsqualitäten vollends begeistert ist, ragen für mich insbesondere Antonio Poli (il Conte d’Almaviva) mit seiner schlanken und schönklingenden lyrischen Tenorstimme („Che mai giova…“), Eleonora Buratto (Susanna) mit ihrem hellen und sicheren Koloratursopran sowie Rosa Feola (Inez) mit wunderschön ausdruckstarker Sopranstimme heraus. Wenn ich dann aber die ganze Reihe der SängerInnen durchgehe, merke ich selbst, dass tatsächlich alle stimmlichen Leistungen überwältigend sind und sich eine einzelne Hervorhebung eigentlich verbietet.

Und dann Riccardo Muti selbst: Er lebt jede Note voll aus, beschleunigt, verlangsamt, dynamisiert und schafft damit Räume für Schönklang in stetigem Wechsel, und das, ohne dass es jemals gehetzt klingt. Grandios und wirklich nicht zu toppen.

Achtung: Diese CDs sind frei verkäufliche Rauschmittel. Unbedingt hörenswert. Und an die Intendanten der etablierten Opernhäuser: Bringt diese Oper endlich in die Spielpläne und auf die Bühnen! Das Publikum wird es danken.

Dr. Holger  Voigt,  15. Mai 2021,  für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Orchestra Giovanile Luigi Cherubini
Dirigent:  Riccardo Muti
Philharmonia Chor Wien
Leitung:  Walter Zeh
Piano:  Speranza Scappucci

Besetzung:

Il Conte di Almaviva:  Antonio Poli, Tenor
La Contessa:  Asude Karayavuz, Mezzosopran
Inez:  Rosa Feola, Sopran
Cherubino:  Annalisa Stroppa, Mezzosopran
Figaro:  Mario Cassi, Bariton
Susanna:  Eleonora Buratto, Sopran
Torribio:  Anicio Zorzi Giustiniani, Tenor
Plagio:  Omar Montanari, Bariton

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