Manfred Honeck formt aus Mozarts Requiem ein spirituelles Theater

CD-Besprechung: Wolfgang Amadeus Mozart  Mozart’s Death in Words and Music  klassik-begeistert.de, 31. Oktober 2025

CD-Besprechung:

Wolfgang Amadeus Mozart
Mozart’s Death in Words and Music
Jeanine de Bique (soprano); Catriona Morison (mezzo-soprano); Ben Bliss (tenor); Tareq Nazmi (bass)
F. Murray Abraham (narrator)
Mendelssohn Choir of Pittsburgh
Westminster Choir (Gregorian Chants)
Pittsburgh Symphony/Manfred Honeck
rec. live, 17-19 March 2023, Heinz Hall, Pittsburgh, USA

Reference Recordings FR-761 SACD

von Dirk Schauß

Mozarts „Requiem“ gilt als „sein“ Werk – dabei schrieb Franz Xaver Süßmayr gut die Hälfte. Bei Mahlers Zehnter, vollständiger überliefert, wird jede Ergänzung mit Argwohn beäugt. Seltsam, diese Doppelmoral der Musikwelt.

Dirigent Manfred Honeck aber nimmt Mozarts Fragment ernst – und macht daraus ein Requiem für Mozart. Er erweitert es. Dabei hat er sich nie mit glatter Perfektion zufriedengegeben. Seine Einspielungen mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra – von Bruckner bis Mahler, von Beethoven bis Jonathan Leshnoff – tragen stets eine persönliche Handschrift, eine Mischung aus österreichischer Klangkultur und amerikanischer Direktheit. Jetzt widmet er sich Mozarts „Requiem“ – und verwandelt das Werk in ein theatralisch-meditatives Erlebnis, das an der Grenze zwischen Konzert, Liturgie und innerer Andacht spielt.

Die Aufnahme, erschienen bei Reference Recordings, ist mehr als ein weiterer Beitrag zur langen Diskographie dieses Stücks. Honeck versteht Mozarts unvollendete Totenmesse als Ausgangspunkt für eine szenische, beinahe erzählerische Deutung. Unter dem Titel „Requiem: Mozart’s Death in Words and Music“ verwebt er Musik, Wort und Raum zu einer Art spirituellen Gesamtkunstwerk. Kein Sakraldrama im Sinne von Pathos, sondern eine sehr durchdachte Dramaturgie über Vergänglichkeit und Hoffnung.

Bevor der erste Takt erklingt, schlägt eine Glocke. Dann erklingen gregorianische Gesänge – schlicht, archaisch, tief atmend. Aus diesem Klangnebel tritt der Schauspieler F. Murray Abraham hervor. Er liest Texte, Briefe und Gedichte, die Mozart, den Tod und die Suche nach Trost thematisieren. Das Besondere: Abraham war einst der Film-Salieri, Mozarts neidischer Gegenspieler in Milos Formans „Amadeus“. Jetzt kehrt er zurück, um Mozart nicht zu bekämpfen, sondern ihm beizustehen. Seine Stimme, heller als man erwartet, mit einer Spur Alterszittern, trägt Würde und Nähe zugleich. Kein Prediger, kein Prophet – eher ein Zeuge, der das Erlebte leise teilt.

Honeck hat dieses Konzept schon vor über einem Jahrzehnt entwickelt und mehrfach live aufgeführt – etwa in Pittsburgh und an der Carnegie Hall. Doch erst jetzt liegt eine endgültige, sorgsam dokumentierte Fassung vor. Er ordnet Mozarts Musik neu, verbindet sie mit anderen Stücken des Komponisten: dem „Ave verum corpus“, der „Masonic Funeral Music“, dem „Laudate Dominum“. Dazwischen gregorianische Chants, Bibelpassagen und Abrahams Monologe. Das Ergebnis ist ein „Requiem“ nicht von, sondern für Mozart. Eine Feier des Übergangs, eine Meditation über das, was bleibt, wenn der Klang verklungen ist.

Der Mendelssohn Choir of Pittsburgh singt mit klarer Struktur und großem Atem, während die Tenöre und Bässe des Westminster Choir die gregorianischen Gesänge mit rohem, ehrlichem Klang versehen. Solistisch tritt ein ausgezeichnetes Quartett an: Jeanine De Bique (Sopran) mit silbrigem Glanz, Catriona Morison (Mezzo) mit erdiger Wärme, Ben Bliss (Tenor) mit leichtem, flexiblen Ton und Tareq Nazmi (Bass) mit Autorität und Resonanz. Sie alle fügen sich ohne Eitelkeit in das größere Ganze ein. Honecks Konzept duldet kein Solistenego, sondern verlangt innere Hingabe.

Der Dirigent, einst Bratscher der Wiener Philharmoniker, bringt seine reiche Erfahrung aus der Klangkultur Wiens ein, aber ohne Nostalgie. Sein Mozart ist transparent, rhythmisch lebendig, doch nie akademisch. Im „Dies irae“ lodert Energie, kontrolliert, ohne auf Effekt zu setzen. Das „Lacrimosa“ beginnt zart und bricht ab – dort, wo Mozart selbst nicht mehr weiterschreiben konnte. Honeck belässt es dabei, verzichtet bewusst auf die nachträglichen Ergänzungen Franz Süßmayrs. Stattdessen fügt er das „Ave verum corpus“ ein, das in seiner schlichten Demut wirkt, als habe Mozart selbst hier ein letztes Amen gesprochen. Dieser Übergang gehört zu den berührendsten Momenten der Aufnahme.

Man hört, wie genau Honeck mit Klangfarben arbeitet. Die Phrasen atmen, die Linien sprechen. Er modelliert Stille und Spannung mit der Präzision eines Regisseurs, ohne die Musik zu verengen. Wo andere auf barocke Klarheit pochen, öffnet er emotionale Räume. Seine Interpretation erzählt nicht nur vom Tod, sondern auch von der Sehnsucht nach Sinn. Der Dirigent selbst schreibt im Booklet, er wolle das Werk in den Kontext einer realen Begräbnisliturgie stellen – und das gelingt ihm auf erstaunlich unangestrengte Weise.

Das Pittsburgh Symphony Orchestra zeigt sich dabei in Bestform. Die Streicher singen mit leuchtender Homogenität, die Bläser artikulieren mit einem Hauch Wiener Noblesse. Die Balance ist sorgfältig austariert: keine überbetonten Pauken, keine blendenden Trompeten. Alles wirkt integriert, aber lebendig. Honeck vertraut auf den natürlichen Fluss, auf Klang als Sprache. Man merkt, dass diese Musiker ihn verstehen – und dass zwischen ihnen eine lange gemeinsame Arbeit liegt.

Technisch ist das Ganze in gewohnt hoher Qualität produziert. Reference Recordings und das Soundmirror-Team fangen den Liveklang aus dem Heinz Hall in einer außergewöhnlichen Transparenz ein. Die Surround- und Dolby-Atmos-Mischung öffnet den Raum, ohne künstlich zu wirken. Die Glockenschläge klingen leicht entrückt, als kämen sie aus einem anderen akustischen Raum – was tatsächlich Teil des Konzepts ist: verschiedene Ebenen des Rituals, der Erinnerung, der Distanz.

Natürlich kann man sich fragen, ob diese Aufführung wirklich noch „Mozarts Requiem“ ist. Honeck stellt diese Frage gar nicht. Für ihn ist das Werk keine fixierte Partitur, sondern ein lebendiger Prozess. Was bei Puristen Irritation auslösen dürfte – das Auslassen des „Sanctus“, das Einfügen anderer Stücke –, fügt sich hier zu einer konsistenten Dramaturgie. Er interessiert sich weniger für Vollständigkeit als für Bedeutung. Das Fragmentarische wird zum Ausdrucksmittel.

Und das funktioniert erstaunlich gut, weil Honeck nie ins Spekulative abrutscht. Sein Pathos bleibt kontrolliert, seine Spiritualität ist geerdet. Es ist kein romantisierendes Mozart-Bild, sondern ein menschliches. Die große Geste entsteht aus innerer Spannung, nicht aus Inszenierung. Wenn am Ende die Glocke erneut erklingt, ist das kein symbolisches Ende, sondern ein offenes Fragezeichen.

F. Murray Abrahams Mitwirkung ist mehr als eine hübsche Idee. Er fügt dem Werk eine neue Erzählebene hinzu – nicht als Fremdkörper, sondern als Resonanzraum. Seine Stimme verleiht der Aufführung eine Unmittelbarkeit, die man im Konzertsaal wohl noch stärker spürt, auf der Aufnahme aber ebenso trägt. Sie führt den Hörer von Satz zu Satz, wie ein stiller Begleiter.

So entsteht eine Aufnahme, die sich jeder schnellen Kategorisierung entzieht. Weder eine liturgische Rekonstruktion noch ein modernes Klangexperiment – vielmehr ein persönlicher Kommentar zu Mozarts letztem Werk. Honeck verwandelt das „Requiem“ in einen Spiegel: für den Tod des Komponisten, aber auch für unsere eigene Wahrnehmung von Endlichkeit.

Was bleibt? Eine Aufnahme von seltener Integrität. Technisch brillant, musikalisch durchdacht, emotional berührend. Kein „Requiem“ zum bloßen Bewundern, sondern eines, das sich hören lässt wie ein Gespräch – über Verlust, über Glauben, über das, was Musik jenseits ihrer Noten bedeuten kann.

Wenn die letzte Glocke verklungen ist, liegt Stille in der Luft, aber keine Leere. Honeck hat ein „Requiem“ geschaffen, das nicht tröstet, sondern anhält – im Denken, im Fühlen, im Zuhören.

Ein Mozart für die Gegenwart: unaufgeregt, ernsthaft, und – man möchte fast sagen – zutiefst lebendig.

Dirk Schauß, 31. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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