CD-Besprechungen:
Pyotr Ilyich Tschaikowsky
Manfred Symphonie, op. 58
Ural Philharmonic Orchestra – Dmitry Liss
Fuga Libera, FUG843
von Dirk Schauß
Es gibt Werke, bei denen das Scheitern ebenso interessant ist wie die Vollendung. Tschaikowskys Manfred Symphonie – diese monströse, vierteilige Selbstbefragung zwischen Romantik, Wahnsinn und orchestraler Ekstase – gehört zweifellos in jene Kategorie. Das Problem: Wenn man sich ihr nähert, darf man sie nicht zu gut bändigen. Wer Manfred dirigiert, muss bereit sein, sich an den Rand der eigenen Kontrolle zu führen. Dmitry Liss und sein Ural Philharmonic Orchestra tun genau das Gegenteil.
Dabei beginnt alles durchaus vielversprechend. Der erste Satz – Lento lugubre – Moderato con moto – hebt mit einer brodelnden Düsternis an. Die Streicher bauen Spannung auf, ein untergründiges Unheil zieht auf, als wolle sich ein Abgrund öffnen. Doch kaum, dass Tschaikowskys Psychodrama Fahrt aufnehmen könnte, wird die Energie eingefangen und leider entschärft. Liss scheint das Orchester an kurzer Leine zu führen, und man spürt sofort: Hier darf nichts ausufern, nichts glühen, nichts schmelzen. Diese Selbstbeherrschung ist zunächst eigen, dann irritierend, und schließlich schlicht lähmend.
Der zweite Satz, Vivace con spirito, trägt den Geist eher im Titel als im Klang. Alles bleibt „gemütlich und ordentlich“, wie aus dem Probenraum in die Konzertschale hinübergerettet. Ein Satz, der eigentlich funkeln, tänzeln, atmen müsste, wird hier zu einem recht gepflegten Spaziergang durch die Alpenlandschaft Byrons, bei dem man sich – trotz herrlicher Aussicht – über den Mangel an Wind beklagt. Selbst das rhythmische Spiel wirkt mechanisch, die Artikulation vorsichtig, als hätte man Angst, das Notenpapier zu zerreißen.
Im dritten Satz, der Pastorale, zeigen die Streicher, was sie können: satt, warm, mit einem schönen Kantabile. Doch auch hier bleibt der Eindruck eines wohltemperierten Akademismus. Alles klingt ordentlich, sauber, strukturiert – und doch seelenlos. Tschaikowskys Naturpoesie wird auf Museumslicht gedimmt, statt zu flirren. Es fehlt jener Schimmer von Gefahr, jener innere Riss, der diese Musik – wenn sie gelingt – in etwas zutiefst Menschliches verwandelt.
Dann das Finale, jenes Allegro con fuoco, das seinem Titel Ehre machen müsste. „Mit Feuer“ steht da – doch das Feuer glimmt hier bestenfalls unter der Asche. Wo sonst die Schlagzeuger und Blechbläser die Katastrophe heraufbeschwören, klingt alles, als würde Liss ihnen permanent zuflüstern: „Nicht so laut.“ Die Pauken sind dumpf und matt, das übrige Schlagzeug bleibt im Hintergrund. Die Blechbläser, solide, aber zu entfernt, als säßen sie in einem anderen Saal. Das Inferno, das Tschaikowsky komponiert hat, wird zum kontrollierten Kaminfeuer – hübsch anzusehen, aber ohne Gefahr.
Das Ural Philharmonic Orchestra spielt – technisch betrachtet – ordentlich. Die Streicher sind erdig, teilweise ruppig, mit einem warmen Grundton, der angenehm altmodisch wirkt. Die Holzbläser überzeugen durch Wärme, die Hörner hingegen schwächeln, die Pauken klingen stumpf, als wären sie zu sehr in Filz gewickelt. Ein Orchester, das Potenzial hätte, das aber nie wirklich losgelassen wird. Und so bleibt der Eindruck einer verpassten Chance: Die Musiker könnten explodieren, doch der Dirigent hält sie zurück – aus Prinzip, scheint es.
Dmitry Liss wählt durchweg gemäßigte Tempi, legt zu viel Wert auf Kontrolle, auf Ausgeglichenheit. Das ist legitim, aber bei Manfred auch fatal. Denn dieses Werk lebt von seinen Extremen – von Schmerz, Verzweiflung, Triumph, Untergang. Wer es domestiziert, nimmt ihm das Herz. Es fehlt Biss, Radikalität, ja selbst jene expressive Unruhe, die Tschaikowsky stets vor dem Kitsch bewahrte. Statt dämonischer Raserei entsteht hier gepflegte Langeweile. Statt Abgrund – leider nur Mittelmaß.
Klanglich ist die Aufnahme solide, aber unspektakulär. Fuga Libera liefert einen natürlichen, leicht warmen Raumklang, der den Streichern schmeichelt, im Tutti jedoch etwas glanzlos bleibt. Die Blechbläser treten zu weit nach hinten, wodurch der Gesamtklang an Schlagkraft verliert. Man bekommt das Gefühl, Tschaikowsky sei hier mit Baumwollhandschuhen angefasst worden – sauber, freundlich, völlig harmlos.
Diese Interpretation ist am ehesten für jene Hörer gedacht, die Tschaikowsky lieber emotional abgekühlt konsumieren – als Klangbad ohne Gefahr des Ertrinkens. Wer aber wissen will, wie sehr „Manfred“ brennen kann, wie viel dämonische Kraft, wie viel Abgrund und Pathos in dieser Musik steckt, der greift zu den großen Aufnahmen – vor allem zu Evgeny Svetlanov, der hier noch das Drama, den Wahnsinn, den Stolz und das Scheitern in voller Wucht entfesselt.
So bleibt Dmitry Liss’ Manfred Symphonie eine solide, aber schmerzhaft brave Angelegenheit. Kein Desaster, aber auch kein Erlebnis. Ein Tschaikowsky, der sich seiner eigenen Emotionen schämt – und genau das ist das Traurigste an dieser Aufnahme.
Dirk Schauß, 23. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
„Tschaikowsky – Der Wille zum Glück“, Hörbiographie klassik-begeistert.de, 19. November 2023