CD/LP-Besprechung:
BACK TO NATURE
Čiurlionis Gražinis
Mirga Gražinytė-Tyla – Onutė Gražinytė
Litauische Nationale Symphonieorchester und das Orchestre Philharmonique de Radio France
Erschienen 2025 bei Deutsche Grammophon, Best. Nr. 4867762
Wann hat man das schon einmal – man hält eine Schallplatte zumindest mit bei uns nahezu oder völlig unbekannten Kompositionen in der Hand, bewundert das ansprechend gestaltete Cover, und stellt fest, dass die Gestaltung auf den Komponisten selbst zurückgeht. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis ist eine längst überfällige Entdeckung!
von Dr. Andreas Ströbl
Eine synästhetische Reise zwischen den Ausdrucksformen
Recherchiert man einmal im Internet, stößt man auf 80 litauische Komponistinnen und Komponisten klassischer Musik, sämtlich aus dem 19. und 20. Jahrhundert, teils noch lebend und aktiv schaffend.
Man wundert sich, dass hierzulande auch 35 Jahre nach Fallen des Eisernen Vorhangs kaum Namen bekannt sind. Mikalojus Konstantinas Čiurlionis zumindest gilt in Litauen selbst als musikalischer Nationalheld, und das Faszinierende an ihm ist seine Doppelbegabung als Tonsetzer und Maler.
Er selbst verband diese nur scheinbar unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten synästhetisch, Čiurlionis malte Töne und ließ Bilder klingen. Viele seiner Gemälde bezeichnete er als „Sonaten“; von der Stilrichtung her möchte man sie in den Komplex Symbolismus-Jugendstil-Art déco einordnen. Folgerichtig schmückt die Vorderseite des Albums ein Ausschnitt aus seinem Bild „Sonate der Sonne – Allegro“, auf der Rückseite ist das Gemälde „Rascheln des Waldes“ zu sehen.
Von den Wogen des Meeres in die Waldidylle
Die Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla hat ihrem Landsmann zu seinem 150. Geburtstag nun eine eigene Schallplatte (ja, eine schwarze aus Vinyl) gewidmet, auf der sie maßgebliche Werke aus seinem Oeuvre eingespielt hat. Ihre Schwester, die Pianistin Onutė Gražinytė, beider Vater Romualdas Gražinis, der Chorleiter des AIDJA Kammerchores, sowie das Litauische Nationale Symphonieorchester und das Orchestre Philharmonique de Radio France begleiten die musikalische Leiterin.
Die ganze A-Seite füllt die Tondichtung „Jūra“ (Das Meer), ein spätromantisches, weitausholendes Naturgemälde in angemessenen Dimensionen, entstanden zwischen 1903 und 1907. Sanfte Flötenweisen bilden atmosphärisch feine Gewebe, dann entrollen sich wie Wellen ausgreifende Melodielinien mit schillernden Harmonien, große Intervalle schaffen spannungsreiche Akzente, volksmusikalische Anklänge geben der Musik etwas Bodenständiges – wenn das bei dem Thema „Meer“ überhaupt möglich ist. Aber nun mag es auch ländliche Szenen an den Küsten geben; Čiurlionis macht hier keine näheren programmatischen Angaben.
Dramatisch bewegt gestaltet sich in jedem Falle das aufwühlende Spiel des tosenden Sturms mit den ragenden Wogen; hier drängt sich als bildlicher Hintergrund das Gemälde „Meeressonate – Finale“ auf – eine riesige, tsunamihohe Welle verschlingt hier im nächsten Augenblick vier Segelboote. Hokusais „Große Welle“ nimmt sich im Vergleich dagegen fast harmlos aus.

Die ungemein abwechslungsreichen, vielfältigen Klangbilder ziehen den Zuhörer in einen meeresbrausenden Sog; klangsprachlich ist diese Musik der eines Smetana, Debussy, Mahler, oder Wagner verwandt. Man ist, bei aller Eigenständigkeit, auch zuweilen an Janáček oder Sibelius erinnert. Ganz deutlich ist aber die Nähe zu Richard Strauss, den Čiurlionis bewunderte; in privaten Briefen gestand er, am liebsten so instrumentieren zu können wie der Münchner Kollege. „Ich möchte eine Symphonie der rauschenden Wellen, der geheimnisvollen Sprache eines jahrhundertealten Waldes, der funkelnden Sterne, der heimischen Lieder und meiner unermesslichen Sehnsucht komponieren“ – die Worte des Komponisten sagen es wohl am treffendsten.
Miške, also „Wald“, ist das zweite große Klanggemälde und dominiert die B-Seite; es ist das bekannteste Stück des Komponisten. Es überrascht nicht, Vogelstimmen und Wagner-artige Hörner in diesem lieblichen dunkel- bis hellgrünen, von Sonnenstrahlen durchfluteten Idyll zu hören. Dieses Waldbild ist von optimistischer Freude und Liebe zur Natur erfüllt, voller phantastisch farbiger Instrumentierung und berückenden Melodieführungen in weiten Strömen, die von feineren Linien durchzogen sind.
Es gibt Motive, die dann doch stark an die „Alpensymphonie“ von Strauss gemahnen, ja fast identisch sind. Das Interessante ist, dass das Werk des Litauers bereits 1900/1901 entstand, das des Bayern aber erst 2015 uraufgeführt wurde. Čiurlionis hat also keinesfalls von Strauss abgeschrieben, war aber insgesamt durch das Studium seiner Kompositionen stark in seine Nähe gekommen: „…und dann mache ich mich an Strauß ran. Habe bereits manche interessanten Dinge entdeckt in der Instrumentation dieses genialen Burschen“, schrieb er an seinen Freund Eugeniusz Morawski im Jahre 1902.
Es ist ein bisschen so, als sähe man die beiden einträchtig durch einen baltischen Forst mit hohen dunklen Tannen wandeln; der eine sagt: „Woaßt, des kennt´ jetzat au bei mir dahoam sei´“, während der andere entgegnet: „Denk´ ich mir, aber diese glänzenden Bläser am Ende malen doch ganz den litauischen Wald mit den Strahlen der baltischen Sonne“. Čiurlionis, 1875 geboren, war 11 Jahre jünger als Strauss, starb aber bereits 1911, im Todesjahr Gustav Mahlers.
Ein echtes Familienprojekt
Romualdas Gražinis ist nicht nur Chorleiter, sondern auch Komponist; er verortet sich in der Nachfolgerschaft von Čiurlionis. Sein Chorwerk mit dem Namen „Sutartinė“, der Bezeichnung für ein mehrstimmiges, traditionelles litauisches Volkslied, wird gesungen vom AIDJA Kammerchor und dem Chor der Nationalen M. K. Čiurlionis Kunstschule. Das Stück ist temporeich und ein interessantes Arrangement für Liebhaber zeitgenössischer Chormusik. Stilistisch und als reines Vokalwerk jedoch will es nicht so recht zu den anderen Kompositionen der Einspielung passen.
Drei Klavierstücke charakterisieren das Schaffen Čiurlionis´ besonders gut, denn eigentlich war er ein Meister der kleinen Form; die allermeisten seiner insgesamt 350 Kompositionen sind Werke für Klavier.
Onutė Gražinytė spielt als erstes „Lakštingala“, die Nachtigall, ein reizvolles kleines Stück mit perlenden Triolen, dann „Ruduo“, den Herbst, das angemessen windig und etwas ungemütlich daherkommt. „Preludias F-Dur“, ein kurzes Präludium, besticht durch markante Wechsel; es wirkt in sich gekehrt, wie ein einsames Blatt, das im Winde schaukelt.
Von der künstlerischen Ausführung absolut überzeugend, bietet das Album einen ganz hervorragenden Einstieg in das Oeuvre eines Tonsetzers, dessen Werke man auf den Spielplänen außerhalb Litauens viel zu selten sieht. Der Blick ins Internet lohnt, um auch das malerische Schaffen dieses Künstlers zu entdecken.
Dr. Andreas Ströbl, 15. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at