Kuljerićs „Kroatisches glagolitisches Requiem“ fesselt in München.
Herz-Jesu-Kirche, München, 14. Februar 2020
Igor Kuljerić, Glagolitisches Requiem
Foto: © Raimond Spekking / wikipedia.de
Miroslav Nemec-Strkanec, Rezitation
Eberhard Knobloch, Klarinette
Kristina Kolar, Sopran
Annika Schlicht, Mezzosopran
Eric Laporte, Tenor
Ljubomir Puškarić, Bariton
Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester
Ivan Repušić, Leitung
Olivier Messiaen
„Abîme des oiseaux“ aus dem „Quatuor pour la fin du temps“ für Klarinette Solo
Igor Kuljerić
Kroatisches glagolitisches Requiem für Soli, Chor und Orchester
von Frank Heublein
Plötzlich setzt er ein! Der Klang der Klarinette. Ein crescendo in warmer mittlerer bis tiefer Tonlage. Unsichtbar für mich, hinter mir auf der Empore, beginnt Eberhard Knobloch Messians 3. Satz des Quatuor pour la fin du temps zu spielen. Ich drehe mich nicht um auf der engen Kirchenbank sitzend. Ich schließe einfach meine Augen. „Abîme des oiseaux“ heißt dieser dritte Satz. Abgrund der Vögel. Ich verspüre den Flug des Klarinetten-Vogels. Er kreist. Das ruhige tonal warme Schwingen der Flügel. Das Aufmerken. Sieht er mich? Dann das Singen. Wahrscheinlich hat sich der Vogel niedergelassen. Beobachtet mich. Spricht er mich an? Lacht er mich aus? Mich, der ich geschlossenen Auges blind bin, gefangen? Unglaublich zart das Crescendo nach einer Generalpause. Mehrfach. Der Vogel singt mir ein letztes kurzes Lied. Und entschwindet. Eberhard Knoblochs Klang ist warm und voll, er gleitet auf den Tönen und lässt mein Inneres zart vibrieren.
Olivier Messiaen hat dieses Quatuor pour la fin du temps als französischer Soldat in deutscher Gefangenschaft 1940/1941 komponiert. Für Musiker und Instrumente, die im Gefangenenlager verfügbar waren. Dieses Stück ist ein Wunder. Ein Teil dieses Wunders höre ich heute live zum ersten Mal. Wunderschön die Stille, die herrscht in den Momenten des vergehenden Klangs, zuletzt im Entschwinden des musikalischen Vogels.
Das glagolitische Requiem wird begleitet durch die kroatische spätmittelalterliche Dichtung einer Grabesrede „tu mislimo“ (Hier in Gedanken). Als bayerischer Tatortkommissar bekannt, rezitiert – er hat kroatische Wurzeln – Miroslav Nemec vor Beginn des musikalischen Requiems die kroatische Version. Ich versuche den Rhythmus in mich aufzunehmen – alles was mir als des Kroatischen Unkundigen gelingen kann. Durch den Klang der Worte nehme ich die wechselvolle Stimmung des Zweifelns und glaubender Überzeugung in mich auf.
Dann tritt Ivan Repušić ans Pult. Auch er hat kroatische Wurzeln. Man merkt es in der Einführung an der Art, wie emotional er über das Werk spricht: es liegt ihm nah am Herzen, erlebte er doch als Teenager die Uraufführung des Stücks live.
Glagolitisch? Kennen Sie nicht? Ich bis heute auch nicht. Die Sprache Glagolitza erfand Slawenapostel Kyrill von Soloniki im 9. Jahrhundert n. Chr., um die Slawen zu christianisieren. Es ist eine Form des Kroatischen. Glagolitza wurde „alsbald“ irgendwann im 12. Jahrhundert entweder durchs Lateinische oder Kyrillische ersetzt. Durch römische Gnade durfte jedoch in Kroatien ab jenem Jahrhundert das „kirchenslawische“, also Glagolitza in Gottesdiensten liturgisch in Wort und Schrift verwendet werden. So haben sich glagolitische Gesänge als eine bis heute lebendige volkstümliche Tradition in Kroatien erhalten.
Igor Kuljerić hat dieses Werk 1994 – 1996 komponiert. Er wuchs auf einer entlegenen kroatischen Insel auf, auf der es diese glagolitische Tradition gab. Strukturell entspricht das sechsteilige Werk vertonten lateinischen Messen, etwa jener von Verdi. Igor Kuljerić setzt ein großes Orchester mit viel Schlagwerk ein. Dazu Chor und vier Solostimmen. Seine Komposition ist harmonisch und nutzt Elemente kroatischer Volks- und Kunstmusik.
Ich spüre den Aufruhr der Seelen. Dunkel wabert der Chor zu Beginn. Permanente dynamische Wechsel. Abrupte Pausen. Piano eines Instruments, einer Solostimme, des Chores, das einhält und umschlägt in wütendes Wogen des vollen Orchesters, des Chors in fortissimo. Bei solchen Stellen müssen die Solostimmen alle Kraft aufbringen, um standhalten zu können in diesem musikalischen Sturm. Dann wieder ein Niedersinken, ein Ruhen und Innehalten all der Stimmen und Instrumente. Diese leisen Stellen sind emotional meine intensivsten. Jedoch kann ich mir keines einzigen Gefühls keinen Moment sicher sein, so sehr drängt die Komposition in der Spannung und Irritation in dem, was ständig aufs Neue überraschend folgt.
Besonders die Teile III. Posliidnica / Sequenz und IV. Prinos / Offertorium packen mich. Geradezu rauschhaft springt mein Empfinden mit der musikalischen Dynamik in düstere Tiefen der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit, und ansatzlos direkt weiter zum hochfahrenden Mut durch Glauben.
Zwischen diesen mich mitreißenden Sätzen trägt Miroslav Nemec die deutsche Übersetzung der Grabesrede „tu muslimo“ vor. Wir werden Erde. Und doch! mit der Hoffnung aufs Auferstehen in Gott. Fordernd ist Nemecs Vortrag, und dennoch empfinde ich eine gewisse Erholung. Das wird mir klar im nachfolgenden Wogen des Prinos / Offertorium, das mich innerlich herumwirbelt.
Alle Musiker auf der Bühne werden extrem gefordert durch die ständige lauernde dynamische Änderung. Mit äußerster Konzentration gelingt dem Chor, dem Orchester und allen Solostimmen präzise die auf dem Sprung bleibende drängende musikalische Dynamik für mich emotional tief und bewegend einzufangen. Dirigent Ivan Repušić nützt – denke ich mir – seine emotionale Verbundenheit zum Stück. Er hält diesen emotionalen Wirbel zusammen, mit all den furiosen, entfesselten Klängen. Dem Komponisten dankend reckt er am Ende die Partitur in die Höhe. Ich bin erschöpft und auch: durchdrungen.
Frank Heublein, 15. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de, klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.ch