Bruckners Neunte erklingt in Amsterdam mit dem rekonstruierten Finale

Concertgebouworkest Manfred Honeck, Dirigent  Concertgebouw, Amsterdam, 9. Februar 2025

Foto: 2024 Concertgebouworkest o.l.v. Manfred Honeck (c) Eduardus Lee

Und zwar in der Revision der SPCM-Vervollständigung. Klingt kompliziert? Ist es nicht.

Manfred Honeck springt im Concertgebouw einmal mehr bei Bruckner ein, diesmal für Riccardo Chailly.

Anton Bruckner (1824-1896) – Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Concertgebouworkest
Manfred Honeck, Dirigent

Amsterdam, Concertgebouw, 9. Februar 2025

von Brian Cooper, Bonn

Der Amsterdamer Bruckner-Zyklus ist beendet. Und würde das Wort nicht so inflationär verwendet, könnte man sagen, dass im Februar 2025 Historisches im Concertgebouw geschah: drei Aufführungen von Bruckners Neunter nicht nur mit dem rekonstruierten „SPCM“-Finale, dazu gleich mehr, sondern sogar mit dessen revidierter Fassung. Und in dieser Form war die Neunte noch nie in den Niederlanden erklungen.

Wie bei der Achten im vergangenen Sommer sprang Manfred Honeck zuverlässig für den vorgesehenen – erkrankten – Dirigenten ein, in diesem Fall für Ex-Chef Riccardo Chailly. Erstaunlich, dass das dritte Konzert am Sonntag nicht ausverkauft war: Von meinem Platz im Parkett aus zählte ich locker 100-150 leere Stühle.

Anton Bruckner hinterließ relativ viel Material für sein Finale, fast 600 von etwa 650 Takten, schaffte es aber nicht mehr vor seinem Tod im Jahre 1896, den Satz zu vollenden. Die Musikwissenschaftler Nicola Samale, John A. Phillips, Benjamin-Gunnar Cohrs (im November 2023 verstorben) und Giuseppe Mazzuca haben zwischen 1983 und 2012 in akribischer Kleinarbeit die Skizzen in einen Finalsatz umgearbeitet, der von Bruckner so vollendet worden sein könnte – oder auch nicht.

Die Version von 2012 wird aufgrund der Nachnamen SPCM genannt. Einer der vier, der Australier Phillips, hat 2021/22 weitere Veränderungen – Verbesserungen, wie er schreibt – vorgenommen.

Die SPCM-Fassung hat Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern eingespielt. Im Booklet der Aufnahme schreibt Sir Simon, Bruckner habe in seiner Neunten „überirdische Musik mit einer neuen Stimme“ geschrieben, „revolutionärer und extremer“ als je zuvor: „äußerst dissonant, oft krass und verzweifelt“.

Das ist wahr, wenn es auch im Englischen besser klingt: „very dissonant, often very stark and despairing“. Die Neunte stößt das Tor zur Moderne extrem weit auf. Im Adagio, dem dritten Satz, der normalerweise als letzter vollendeter Satz Bruckners auch in den meisten Aufführungen das Ende der Sinfonie bedeutet, gibt es kurz vor dem Ende einen Fortissimo-Akkord, der in seiner markerschütternden Dissonanz eine ähnliche Wirkung auf Zeitgenossen gehabt haben dürfte wie der „Barrabam“-Akkord in Bachs Matthäuspassion.

Auch im Concertgebouw ging nicht nur diese Stelle durch Mark und Bein. Schon im ersten Satz gab es viel Lobens- und Staunenswertes: der insgesamt sehr fein austarierte Gesamtklang; das golden schimmernde, absolut sichere Blech; das unfassbar schöne Musizieren des Paukisten Tomohiro Ando, der sich immer mehr als würdiger Nachfolger des schillernden Marinus Komst erweist; und schließlich die perfekte Grundierung in Bässen und Celli.

Foto: 2024 Concertgebouworkest Manfred Honeck (c) Eduardus Lee

Fast hätte ich „Celi“ geschrieben. Und das bringt mich zum Thema Tempi. Honeck ist durchaus auf der zügigeren Seite der Bruckner-Dirigenten einzuordnen. Der Mittelteil des zweiten Satzes ist so ein Beispiel. Und im Kopfsatz lässt er schon mal schneller spielen, um dann die Rallentandi umso mehr auszukosten. Ebenso wie in der Achten kostet er die Generalpausen aus. Das Publikum macht mit, verhält sich still.

Im zweiten Satz ist sein Dirigierstil regelrecht inspirierend. Diese insistierenden Akkorde, deren Pochen nichts Gutes verheißt, vermitteln Todesnähe und eine Stimmung wie in einem Bosch-Gemälde.

Was fasziniert: Der jeweils letzte Akkord im ersten und zweiten Satz ist „leer“, also weder Dur noch Moll. Hier gibt es eine Parallele zum „Quia pius es“ in Mozarts Requiem. Im dritten Satz, der ja in versöhnlichem E-Dur endet, glänzt das Holz, allen voran Flötistin Emily Beynon, und künden Posaunen und Tuba an einer besonders intensiven Stelle nahezu atonal vom jüngsten Gericht. Und dann das erwähnte Finale: Strahlendes D-Dur am Ende, man verlässt die Gefilde der Endlichkeit gen Höherem, als sei uns der liebe Gott, dem die Sinfonie gewidmet ist, wohlgesonnen.

Bleibt die grundsätzliche Frage: Sollte man nach dem Adagio aufhören, eben weil Bruckner den Finalsatz nicht vollendet hat, oder ist es ein legitimes Anliegen, die Rekonstruktion womöglich künftig wie selbstverständlich aufzuführen, ähnlich wie Mozarts Requiem ja fast nur in der Süßmayr-Vollendung zu hören ist? Rattle bemerkt in diesem Kontext zu Recht, dass es im Finalsatz mehr Bruckner gibt als im Requiem Mozart.

Foto: 2024 Concertgebouworkest Manfred Honeck (c) Eduardus Lee

Es ist legitim, die viersätzige Fassung zu spielen, wird aber noch dauern, bis sie sich durchsetzt. Streiten müsste man dann noch darüber, ob die Version von 2012 oder 2021 zu bevorzugen wäre, oder eine der vielen anderen, die es gibt, aber diese Debatte darf gern an anderer Stelle geführt werden.

In jedem Fall ein herausragender Bruckner-Nachmittag – das fand auch der beim anschließenden koffiezufällig angetroffene Musikfreund aus Aachen („Ach nee!“ und „War ja klar, dass Du hier sein würdest“). Wir reisen weit, um Großes zu hören, und freuen uns immer wieder, im Concertgebouw zu sein.

Dr. Brian Cooper, 11. Februar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Anton Bruckner, Sinfonie Nr. 8 c-Moll, Concertgebouworkest, Manfred Honeck Amsterdam, Concertgebouw, 20. Juni 2024

Schubert und Bruckner, Koninklijk Concertgebouworkest, Andrew Manze, Dirigent Concertgebouw Amsterdam, 29. September 2024

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Manfred Honeck (Teil 1) klassik-begeistert.de, 23. August 2024

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Manfred Honeck (Teil 2) klassik-begeistert.de, 24. August 2024

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Manfred Honeck (Teil 3) klassik-begeistert.de, 25. August 2024

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