Kehrt den Mief aus dem Saal - jetzt wird das Konzerthaus gerockt!

Düsseldorfer Symphoniker, Gordon Hamilton, Dirigent, Moderation & Synthesizer, Tom Thum, Beatboxing Tonhalle Düsseldorf, 6. Juni 2023

Fotos:2023-06-06_ignition © juengermann

Tonhalle Düsseldorf, 6. Juni 2023

Düsseldorfer Symphoniker
Gordon Hamilton, Dirigent, Moderation & Synthesizer
Tom Thum, Beatboxing

Jörg Mohr, Regie

Joe Hisaishi – „Castle in the Sky“ arrangiert von Alex Johanson, „Merry go round of life“ und „Promise to the world“ aus „Howl’s Moving Castle“ (zu Deutsch: „Das wandelnde Schloss“), 2005

Hiroaki Tsutsumi – JuJutsu Kaisen Suite, 2019

Peter I. Tschaikowsky – Schwanensee & Walzer – aus dem Ballett „Schwanensee“, 1877

Hans Zimmer – Suite zum Film „Fluch der Karibik“, 2003

Gordon Hamilton & Tom Thum – Thum Prints für Beatboxer und Orchester, 2023

von Daniel Janz

Der Konzertsaal – Tempel der Orchestermusik, Schauhaus von Komponistengenies. Ein Besuch hier eröffnet Welten und belebt den Geist. In mir als Rezensent gehen bei jedem Besuch eigentlich zwei unterschiedliche Personen in den Konzertsaal. Da ist einerseits der gutbürgerlich wohlerzogene Anzugträger, der stillschweigend und andächtig den Klängen lauschen will. Und dann der ungezügelte, junge Draufgänger, der jeden Takt mitwippen, am liebsten die Melodien aus ganzem Herzen mitsummen und sich einfach der Ekstase hingeben will. Normalerweise lassen sich diese beiden Gestalten gut in Einklang bringen. Anders war das aber heute beim Besuch in der Düsseldorfer Tonhalle, in der Gordon Hamilton, die Düsseldorfer Philharmoniker und ihr Sondergast Tom Thum jegliche Konvention gesprengt haben. Erleben Sie als Reaktion also eine Kritik von ein und derselben Person aus zwei so unterschiedlichen Perspektiven, dass sie heute nicht mehr zusammenfinden werden.

Eigentlich ist das Spektakel vorprogrammiert, wenn man Konzerte der #IGNITION-Reihe unter Gordon Hamilton (41) besucht. Zu jeder dieser Veranstaltungen sucht sich der australische „Dirigent, Komponist, Musikmacher und Tausendsassa“ ein eigenes Thema, stellt Werke aus Popkultur, Filmmusik, Klassik/Romantik und immer auch ein Experimentalstück zusammen und spendiert dies als musikalisches Sternegericht garniert dem Publikum. Wie erfolgreich er damit ist, zeigt alleine der auch heute wieder ausverkaufte Saal. Und noch ein Detail ist zu erwähnen: Das Durchschnittsalter ist an diesem Abend keine 30 Jahre, grob geschätzt dürfte es wohl irgendwo um die 25 liegen. Damit ist dies das jüngste Publikum, das der Rezensent jemals bei einem Klassischen Konzert erlebt hat – Schulkonzerte miteingeschlossen. Schon rümpft der innere Spießbürger seine Nase. Ob das wohl gutgehen wird?

Zu Beginn sind die Töne jedenfalls versöhnlich, obwohl mit „Flüchen“ ein düsteres Oberthema gegeben ist. Als erstes Beispiel für eine Geschichte rund um einen Fluch bedienen sich Dirigent und Orchester bei dem Film „Howl’s Moving Castle“ (zu Deutsch „das wandelnde Schloss“). Dieser Klassiker der Anime-Szene behandelt die Geschichte der jungen Protagonistin Sophie, die von einem Fluch in eine 90-jährige Frau verwandelt wird. Dieses Schicksal versucht sie, mit der Hilfe der Bewohner des magischen wandelnden Schlosses rückgängig zu machen.

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Musikalisch begegnet einem hier ein reißender Strom unterschiedlicher Szenen. Ein atemberaubend klares Trompetensolo auf trabenden Streichern macht den Einstieg. Später wird dieses Solomotiv auch vom Fagott, von der Klarinette und von der Flöte aufgegriffen und durch ständige Klangfarbenwechsel umrundet. Im zweiten Exzerpt begegnen einem zu leicht jazziger Rhythmik romantische Soli von Klavier und Horn. Mal blitzt eine Walzerszene durch, dann springt das Glockenspiel ein und erinnert an eine Parade. Und auch der dritte Part erzeugt durch seine romantisch/verklärenden Klangwelten mit kammermusikalischem Charme eine gewisse Ausstrahlung.

Begeistert zeigt sich der innere, jugendliche Genießer. Klar, der schlipstragende Bildungsbürger würde jetzt meckern, dass diese Musik im Kern immer nur dasselbe Thema in ändernden Instrumentengruppen mit abwechselndem Begleitkolorit ist – harmonische Vielfalt oder gar Entwicklung sucht man hier vergeblich, da hätten Bach oder Beethoven ganz andere Register gezogen. Aber es ist doch irgendwie schön, wie Komponist Joe Hisaishi die Leitthemen einzelner Szenen in stets neue Klangfarben kleidet. Mehr braucht gute Filmmusik nicht. Und Gordon Hamilton versteht etwas von Dramaturgie. Diese Auszüge belassen es bei frischen Impressionen, ohne eintönig zu werden. Es muss also nicht jedes Mal Bach oder Beethoven sein!

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Kontraste erzeugen die darauffolgenden Werke. Die Suite zum Anime „JuJutsu Kaisen“ (Animes sind Zeichentrickserien, die auf einem japanischen Comic, genannt „Manga“ basieren) von Hiroaki Tsutsumi schlägt richtig ein. Markige Melodien, abwechslungsreiche Passagen und militaristisch anmutende Trommelschläge auf modernem Drumset verleihen der Veranstaltung einen neuen Anstrich. Diese Musik passt zur Geschichte, die sich im Kern um eine Geheimorganisation im Kampf gegen Flüche dreht. Für diejenigen, die den Anime kennen, dürfte die Aufführung in dieser Qualität wohl eine Offenbarung sein. Dem inneren Bildungsbürger fehlt aber die Zuordnung zur filmischen Vorlage und damit die Identifikationsgrundlage. Schade, dass die große Leinwand im Hintergrund (vermutlich wegen fehlender Lizenzen) nicht genutzt wurde, um ein paar Bilder aus dem Anime zu zeigen.

Dafür aber darf der Bildungsbürger bei Schwanensee von Tschaikowsky schwelgen. Nicht nur historisch stechen die von Gordon Hamilton mit Bedacht ausgewählten und vom Orchester fabelhaft vorgetragenen Szenen heraus (begeistern kann hier u.a. die Oboe zum Einstieg und auch das Flügelhorn, das den Walzer verzaubert). Ganz nebenbei leisten sie damit auch einen Beitrag zur Bildung, als auf Nachfrage des Dirigenten Teile des Publikums zugeben, Tschaikowsky noch nie gehört zu haben. Auch dem inneren, jugendlichen Liebhaber geht das Herz auf – gemeinsam liegen er und der innere Bildungsbürger sich im Arm und genießen ganz verzaubert.

Auch die markige Suite zum „Fluch der Karibik“ von Hans Zimmer lässt keine Wünsche offen, als die Bühnenkünstler „Jack Sparrow“ und seine „Black Pearl“ durch den Saal treiben. Fabelhaft auch hier wieder die Soli – besonders das erste Cello sticht glänzend hervor. Es scheint, als wären zu diesem Zeitpunkt alle im Einklang.

Das ändert sich schlagartig, als Gordon Hamilton nach der Pause vom australischen Beatboxers Tom Thum (38) begleitet die Bühne betritt. Ihre gemeinsam produzierte Komposition „Thum Prints“ gleicht einem Klang-, Bühnenexperiment mit Orchester, Beatboxer und Syntheziser-Klängen. Alleine diese Kombination ist gewagt. So etwas dann auch noch mit einer Lichtshow wie in der Disco zu verfeinern (Lob an die Regie für die gelungene Mischung!) ist mit Mut kaum zu überbieten. Das ist ein eigentlich seit Skrjabin überfälliger Tabubruch, der hier zelebriert wird! Aber auf solche Experimente muss man bei Veranstaltungen der #IGNITION-Reihe eingestellt sein!

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Und auch das kann Kunst sein. In bunter Mischung aus Thum’scher Mundakrobatik, Orchesterbegleitung, feurigen Hiphop-Rhythmen und Humor rocken sie den Saal dieser ehemaligen Sternwarte. Mal schmeißen sich Tom Thum und Orchester zu Zwischentiteln, wie „Fanfare for the common Thum“ oder „Sound exchange“ die Rhythmen zu (Frage: Wurde der Titel „Sound exchange“ zu spät eingeblendet? Er passte nämlich nicht zum auf der Bühne gezeigten, sondern zu der vorherigen Szene). Mal agieren Gordon Hamilton und Tom Thum bei „The Sorcerer“ in einer Art Performance-Duett, als würde der Beatboxer unter dem magischen Bann des Dirigenten liegen. Mal beweist Tom Thum zu „Horns of War“ in einer „dystopischen Ode über den Sturz der Menschheit“ oder bei „Fireflies“, dass er auch gesangliche Fähigkeiten besitzt. Und auch der Dirigent ist sich nicht zu schade, dabei mal den Taktstab wegzulegen und selbst den Synthesizer und das Mischpult zu bedienen.

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Das Thema „Flüche“ ist zu diesem Zeitpunkt zwar längst vergessen, aber mein Gott, wen interessiert’s? Höchstens den anzugtragenden Spießbürger in mir – der ist in meiner Gedankenwelt zu diesem Zeitpunkt aber eh schon wild fluchend und den Skandal heraufbeschwörend aus dem Saal gestürmt. Zurück bleibt der junge Leidenschaftliche, der sich zu diesem Zeitpunkt nur wundert, warum das Publikum nicht längst tosend aufgesprungen ist und den Saal zum Tanzflur macht. Denn diese Performance hat alles, was es heutzutage braucht, um ein Publikum zu begeistern, obwohl klassische Konventionen spätestens jetzt komplett verabschiedet sind. Vielleicht hat diese „Party“ aber gerade deshalb so eine beeindruckende Wirkung.

Zum Abschluss wird jedenfalls klar, dass die Veranstalter ihr Publikum verstehen. Der Minuten lange Applaus, zu dem sich der gesamte Saal erhebt, reizt Tom Thum so sehr, dass er sich zu einer Zugabe quer durch die (Klischee-)Klangwelten der Welt bewegen lässt. Und was er alles nur mit seinem Stimmapparat erzeugen kann, ist schon phänomenal. Indische Sitarklänge, chinesische Pentatonik, Bassdröhnen eines Berliner Nachtclubs oder Jazzklänge des San Francisco der 1930er Jahre – alles erzeugt dieses Klanggenie nur mit seinen Stimmbändern. Für die Liebhaber des Klassischen Sinfoniekonzerts war das heute wohl nur schwer zu ertragen. Aber der jugendliche Konzertgänger dürfte nur einen Ausruf kennen: Genial!

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Ein Konzertbetrieb, der Zukunft haben will, muss sich jedenfalls auch solchen Strömungen und Experimenten öffnen, anstatt immer nur auf die avantgardistischen Kopfknoten moderner Klangakrobaten zu setzen. Klar, auch solche Experimente können mal schiefgehen. Heute hat diese ungewöhnliche Mischung aber phänomenal gut funktioniert! Der Rezensent wird jedenfalls gerne wiederkommen. Beim nächsten Mal dann auch in dem Wissen, dass es nicht zu jedem Konzertbesuch den inneren bildungsbürgerlichen Spießer braucht. Denn wenn dieser Abend eines gezeigt hat, dann, dass man auch im Konzertsaal mal ausgelassen und locker vor Spaß abgehen kann.

Daniel Janz, 8.6.2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Düsseldorfer Symphoniker unter Gordon Hamilton Düsseldorfer Symphoniker, Tonhalle Düsseldorf, 3. November 2022

Camerata Louis Spohr, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf E.V. Tonhalle Düsseldorf, 15. Oktober 2022

Neue Philharmonie Westfalen, Benjamin Pope, Filmmusiken von Hans Zimmer und John Williams, Tonhalle Düsseldorf, 8. April 2022

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