Ich werde starkstromisiert durch tanzübertragene noch nie gehörte Musik-Ton-Geräusche

ensemble oktopus/Ballett-Akademie  Reaktorhalle, München, 25. Mai 2025

Musik und Tanz © Andreas Giebisch (01) Musik und Tanz – umschlungen © Andreas Giebisch

Na dann komponiert mal für die nicht gerade eben einfache Besetzung. Na dann choreografiert mal auf diese obskuren Tongebilde. So geht es zu, wenn sich ensemble oktopus und Ballettakademie der Hochschule für Musik und Theater München zusammentun. Mut. Enthusiasmus. Konzentration. Energie. All das hebt diesen Abend auf das von Konstantia Gourzi eingeforderte sehr hohe Niveau. Für mich neu, für mich wow.

Abigél Varga 
Transforming Nature (Uraufführung)

Minami Nagai
umschlungen (Uraufführung)

Jenny Peña Campo
»Páginas en blanco« (Uraufführung)

Víctor Pantoja Figueroa
Itxaropenik ez (Uraufführung)

ensemble oktopus
Studierende der Ballett-Akademie
Choreografie: David Russo, Tänzerinnen und Tänzer der Ballett-Akademie
Leitung: Konstantia Gourzi

Reaktorhalle, München, 25. Mai 2025

von Frank Heublein

Vier Uraufführungen von Kompositionen. Das Ensemble Oktopus der Hochschule für Musik und Theater München widmet sich zeitgenössischen „klassischen“ Werken, heute mit vier jungen Komponisten und Komponistinnen. Die Kombination mit Tanz ist neu. Für alle Akteure, für mich als Teil des Publikums.

Schon mit dem Einlass sind Tänzerinnen, Tänzer, Musikerinnen und Musiker auf der Bühne. Ist es schon losgegangen? Jedenfalls höre ich diese Frage um mich herumwabern. Die Atmosphäre jedenfalls wird damit gesetzt: jede Erwartung könnte eine falsche sein. Augen auf. Ohren auf. Einströmen lassen.

Musik und Tanz © Gregory Giakis Untertitel: Musik und Tanz – Transforming Nature © Gregory Giakis

Abigél Vargas Transforming Nature erkundet den Klimawandel. Naturtöne stehen der entstellten Wirklichkeit gegenüber, so der Komponist im Programmheft über sein Stück. Tänzerinnen und Tänzer bewegen sich lange einzeln und unabhängig voneinander. Wo eigentlich ist die achte Tänzerin? Sie schlüpft wie ein Schmetterling aus einem Kegelförmigen Kokon. Erst spät finden Tänzerinnen und Tänzer zueinander, wie erst die Musik spät zu einem natürlichen Klang „zurückfindet“.

Musik und Tanz © Andreas Giebisch Musik und Tanz – umschlungen © Andreas Giebisch

Komponistin Minami Nagais hat sich nach ihrer Aussage im Programmheft bei umschlungen den natürlichen Ausgangspunkt eines Rhizoms gesetzt. Das ist ein unterirdischer Wurzelstock. Die Idee der Wurzel übernimmt sie mit der Verarbeitung eines traditionellen japanischen Musik-Tanzes Gagaku. Die Tänzerinnen und Tänzer bauen miteinander ein Türmchen aus Hockern – sehr schön ins Licht gesetzt (durch wen, dass verrät das Programmheft nicht). Die Kostüme der Tänzerinnen und Tänzer sind neonfarben im Dunkel leuchtend grün, gelb, magentafarben. Farbschillernd tanzen sie anfangs auch gegeneinander, zunehmend immer mehr miteinander. Die Stimmung empfinde ich als aufgepeitscht. Tänzerinnen und Tänzer stürzen den Turm ein, lösen die bunten Papierbande des Raum im Raum bildendenden Daches im wilden Durchtanzen der Bühnenbreite.

Musik und Tanz © Andreas Giebisch Musik und Tanz – Paginas en Blanco © Andreas Giebisch

Jenny Peña Campos Komposition »Páginas en blanco« startet mit einer Aufräumaktion. All die bunten Reste der Ekstase, mit der die vorherige Chroeografie endete, wird zusammengekehrt. Unter lauter Beschwerde einer Tänzerin, immer alles machen zu müssen, dazu ganz alleine. Die Kostüme wechseln zu weiß. Die musikalische Atmosphäre hellt sich auf. Die Tanzgruppe ruckelt sich zurecht auf den vormals anders eingesetzten Hockern. Dann geht’s los. Ganz dem Titel der Komposition weiße Blätter entsprechend. Der Tanz füllt diese Blätter mit eindrucksvollen Hebefiguren, Paar- und Dreierkombinationen wie verschnörkelte Schrift, dass die Blätter mit Eleganz und Anmut füllt.

Musik und Tanz © Andreas Giebisch Musik und Tanz – Itxaropenik ez © Andreas Giebisch

Víctor Pantoja Figueroas Itxaropenik ez ist baskisch und bedeutet ohne Hoffnung. Der Komponist spricht im Programmheft davon, dass der Ausdruck das „Gefühl der Entfremdung und des Mangels an Zugehörigkeit“ unterstreicht. Die Tänzergarde sind entsprechend jetzt ganz in schwarz. Auch hier werden Tänzerinnen gehoben, geworfen und zu einem losen Teppichflor ausgerollt. Das Düstere der Komposition wird in verzehrenden Tanz gesetzt.

2023 wurde die Kooperation von der Ballett-Akademie und dem ensemble oktopus vereinbart. Dann bekamen vier Komposition-Studierende den Auftrag, ein kammermusikalisches Werk zu komponieren. Allein die Besetzung wurde vorgegeben: Klavier, Harfe, Akkordeon, Saxophon, Kontrabass und Schlagzeug. Anfang 2025 wurden die Stücke eingespielt. Die Tänzerinnen und Tänzern rund um David Russo machten sich ans Choreografieren. Zehn Tage vor der öffentlichen Aufführung fanden Musikerinnen und Musiker mit den Tänzerinnen und Tänzern zusammen, um genauso wie aufgeführt werden soll, zu proben.

Musik und Tanz © Gregory Giakis / Musik und Tanz – Minami Nagai © Gregory Giakis

Konstantia Gourzi verweist in der kurzen Einführung darauf, dass die sechsundzwanzig Künstlerinnen und Künstler dieses Abends aus zweiundzwanzig Ländern kommen. Sie erarbeiten gemeinsam und zusammen die Schönheit dieses Abends. Hier klappt internationale Kooperation hervorragend, ganz ohne prinzipielles Hinterfragen, allein mit dem Fokus auf ein gemeinsames Ziel. Ich unterstütze ihr politisches Statement. Kultur macht vor, was auch ich in anderen sozialen Zusammenhängen für wünschenswert erachte: Gemeinsame Ziele ermöglichen Zusammenarbeit.

Musik und Tanz © Gregory Giakis Untertitel: Musik und Tanz – die komplette Künstlercrew beim Schlussapplaus, Jenny Peña Campo 9. von rechts © Gregory Giakis

Den ausgelobten Publikumspreis gewinnt das rhythmischste, atmosphärisch hellste, zuversichtlichste Stück. Komponistin Jenny Peña Campo von »Páginas en blanco« kann es gar nicht glauben, diesen Preis zu gewinnen.

Mein Gesamteindruck des Abends: Mut. Enthusiasmus. Konzentration. Energie. All das hebt diesen Abend auf das von Initiatorin, ensemble oktopus Leiterin, Hochschulprofessorin und Komponistin Konstantia Gourzi eingeforderte und von ihr mit erarbeitete hohe künstlerische Niveau.

Kürzer: Für mich neu, für mich wow. Möge diese Kooperation zwischen zeitgenössischem Tanz und ebensolcher Musik weitere Früchte tragen. Ich freu mich drauf, denn diese beiden Kunstbereiche starkstromisieren sich und gegenseitig an diesem Abend – und mich natürlich auch.

Frank Heublein, 02. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

Abigél Varga
Transforming Nature (Uraufführung)

Minami Nagai
umschlungen (Uraufführung)

Jenny Peña Campo
»Páginas en blanco« (Uraufführung)

Víctor Pantoja Figueroa
Itxaropenik ez (Uraufführung)

Besetzung

Choreografie: David Russo, Tänzerinnen und Tänzer der Ballett-Akademie
Leitung: Konstantia Gourzi

Tänzerinnen und Tänzer: Olja Alecsic, Simon Boley, Katherina Novotna, Ata Aktas, Monami Aoki, Pimentel Quintao Sarah, Manuel Mircuda, Leonid Boltnikov

Musikerinnen und Musiker bei Varga, Nagai:

Saxophon Joao Marinho
Akkordeon Yotam Einstein
Harfe Emma Longo Valente
Klavier Minami Nagai
Schlagzeug Hyunjoon Park
Kontrabass Rafael Mendoza Muñoz

Musikerinnen und Musiker bei Campo, Figueroa:

Saxophon José Sousa
Akkordeon Marcell Csuka
Harfe Sonia Cristante
Klavier Luis González Lladù
Schlagzeug Deng Wenhui
Kontrabass Lluc Osca Ribera

Dance Festival: This resting, patience  Schwere Reiter, München, 25. Mai 2025

K.I.nd of human/Arcis Saxophon Quartett  Kulturzentrum neun, Ingolstadt, 21. Mai 2025

The Woods so Wild, Ensemble Phoenix Munich Bayerisches Nationalmuseum, München, 15. Mai 2025

Cavalleria rusticana / Pagliacci, Jonas Kaufmann Nationaltheater, München, 22. Mai 2025 PREMIERE

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