Grandiose Inszenierungen (und ein kühner Fehlgriff) beim Verdi-Festival in Parma

Festival Verdi 2017,  Parma und Busseto

Foto: Teatro Regio di Parma / Renzi (c)
Um es gleich vorweg zu nehmen: Im Vergleich zu allen mehrtägigen Opernfestivals, die ich diesen Sommer in Österreich (Wagner in Erl) und Italien (Puccini und Verdi in Verona, Rossini in Pesaro, Puccini in Torre del Lago) besuchte, verleihe ich dem diesjährigen Verdi-Festival in Parma ohne Zögern den Lorbeerkranz. Im prachtvollen Teatro Regio wohnte ich zwei ebenso hinreißenden wie musikalisch hochstehenden Inszenierungen bei (Verdis „Fallstaff“ und „Jérusalem“) bei, dazwischen eine geradezu atemberaubende, überwältigend schöne „Messa da Requiem“. Enttäuschend hingegen – zwar nicht musikalisch, aber szenisch – war der von dem für seine experimentellen Produktionen bekannte britische Opernregisseur Graham Vick im Teatro Farnese inszenierte „Stiffelio“.

Eigentlich ist das Teatro Farnese viel zu schade für ein politisches Experiment – denn das war Vicks „Stiffelio“-Inszenierung. Das Theater ist eines der Wunderwerke barocker Baukunst: Es wurde 1617/1618 als Hoftheater im Backstein-Palast „Palazzo della Pilotta“ völlig aus Holz mit wunderbaren Fresken und Skulpturen erbaut. Der riesige, als halbkreisförmige Arena gestaltete Zuschauerraum verfügt über 3000 Plätze, die auf eine riesige Szene hinabblicken – auf dieser wurden im 17. Jahrhundert gewaltige barocke Spektakel aufgeführt; das Halbrund wurde bisweilen mit Wasser gefüllt, auf dem Seeschlachten inszeniert wurden und aus dem furchterregende Seemonster auftauchten. Der Architekt, Giovanni Battista Aleotti, nahm Palladios berühmtes Teatro Olimpico in Vicenza zum Vorbild, veränderte das Konzept aber grundlegend. 1944 wurde der fantastische hölzerne Raum durch Brandbomben völlig zerstört – aber inzwischen originalgetreu und in alter Pracht wieder aufgebaut.

Diesen herrlichen Raum, eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Parma, adäquat zu bespielen ist eine große Aufgabe und künstlerische Verantwortung. Erst zum zweiten Mal seit der Rekonstruktion wurde mit „Stiffelio“ im Rahmen des Verdi-Festivals hier eine Aufführung möglich. Vick wollte mit seiner „Stiffelio“-Interpretation ein politisches Statement lancieren – gegen die reaktionäre, sexistische, homophobe Haltung der Kirche – auch und gerade in Italien ein aktuelles Thema.

Vick inszeniert die musikalisch sehr schöne, aber inhaltlich wenig attraktive und daher selten gespielte Verdi-Oper als Stationentheater auf fahrbaren Podesten; der prachtvolle Raum wird mit riesigen Spruchbändern und Stoffplakaten vollgehängt (verschandelt), auf denen – man kann es nicht anders sagen – läppische Slogans über die Unantastbarkeit der Familie etc. zu lesen sind.

Während das Publikum, das während der ganzen Vorstellung stehen muss und sich von einem Schauplatz zum anderen wendet, den Saal betritt, spielt das Orchester bereits die Ouverture – Vick will offenbar keine zeitlich limitierte „Vorstellung“, sondern eine „Situation“ darstellen. Das Publikum wird von unangenehm, im Stil amerikanischer Sekten, grinsenden Statisten, die Bibeln und Breviere in Händen halten, empfangen, ja umarmt und geküsst. Sehr peinlich ist das alles. Man ringt um Distanz und will eigentlich mit alledem nichts zu tun haben.

Und ziemlich brutal geht es auf den Podesten zu, wenn Vertreter der Kirche gegen aufmüpfige und protestierende Schäflein einschreiten und praktizierende Homosexuelle mit dem Kopf hart gegen ein großes, mit Neonröhren beleuchtetes Holzkruzifix stoßen. Da wird, unmittelbar vor uns, gefoltert, geprügelt, wird ein Hals aufgeschlitzt. Vick huldigt da einem schonungslosen Ultra-Realismus. Metaphorisch wird jeder Besucher, jede Besucherin dieses Stationentheaters gezwungen, Position zu beziehen, einen Standpunkt zum Geschehen zu finden – und in Interaktion mit diesem Geschehen, auf dieses Geschehen zu reagieren. So gesehen, eigentlich ganz intelligent – aber doch sehr kopflastig.

Man könnte darüber die wunderbare Musik Verdis fast vergessen. Und die großartigen Leistungen von Solisten, Chor und Orchester. Und vor allem den herrlichen Raum, in dem sich die dramatische Handlung abspielt. Immerhin – man erinnert sich daran, dass man in Verdis „Stiffelio“ autobiographische Elemente zu entdecken vermag: Verdis Geliebte, Giuseppina Strepponi, wurde von den Bewohnern von Verdis Geburtsstädtchen Busseto geächtet, als sie mit dem Komponisten unverheiratet zusammen lebte. Es war der Anfang eines unheilbaren Zwistes zwischen Verdi und Busseto, das heute auf Schritt und Tritt, mit Plakaten, Denkmälern, Souvenirshops, Benennungen und Opernmusik aus Lautsprechern dem Maestro huldigt und sich schamlos als Verdi-Pilgerort, als Verdi-Mekka geriert – Verdi hätte diese Heuchelei gehasst.

Stiffelio: Guillermo Garcia Calvo dirigiert abseits des szenischen Geschehens, doch hingebungsvoll das glänzende Orchester und den ausdrucksstarken Chor des Teatro Comunale di Bologna. Grandiose, kräftige Stimmen, unter denen Luciano Ganci in der Titelrolle des Stiffelio und Maria Katzarava als seine Gattin Lina und Francesco Landolfi (Stankar) herausragen, tragen unter dem Beifall des teils eher strapazierten Publikums die musikalische Seite einer anspruchsvollen, aber zu Recht sehr umstrittenen Inszenierung.

Reine Freude und Heiterkeit hingegen bescherte der „Falstaff“ im Teatro Regio unter der Regie von Jacopo Spirei (vitales Dirigat: Riccardo Frizza) . In der Herberge im Tudor-Stil, wo Falstaff abgestiegen ist, erblickt man auf der Wand ein Bild der Queen – klein genug, um nur dem aufmerksamsten Besucher aufzufallen, groß genug, um eindeutig die Silhouette Ihrer Majestät zu identifizieren. Das Bühnenbild ist phänomenal: Alice Ford und Meg Page, die identische Liebesbriefe vom fetten Ritter erhalten haben, treffen sich auf einem Platz einer englischen Kleinstadt, deren Atmosphäre den Zuschauer sofort nach Britannien transportiert. Und für die berühmte Szene im Park von Windsor werden die Häuser teilweise in den Schnürboden hochgezogen und geben den Blick auf den magischen Garten frei, in dem sich die turbulente Maskerade abspielt. Alles sehr lebendig und humorvoll.

Unter den Darstellern ragte Roberto de Candia als korpulenter, lebenslustiger und von Durst, Hunger, unstillbarer Liebeslust sowie unerschöpflichem Selbstmitleid geplagter Fallstaff hervor. Ein sehr überzeugender, sonorer Bariton, doch der Star des Abends war Ford, der Gatte von Alice – ein wunderschöner Bariton, dem der Applaus des Publikums sicher war.

Einer der unbestrittenen Höhepunkte des Festivals war die Messa da Requiem, ein gewaltiges Werk – überragend interpretiert vom Orchester Filarmonica Arturo Toscanini mit dem großartigen Chor des Teatro Regio unter der präzisen Stabführung von Daniele Callegari (Chormeister Martino Faggiani), der uns überwältigenden metaphysischen Schauder und subtilste Pianissimi in der ganzen Bandbreite präsentierte, die Verdi mit seinem Requiem konzipierte. Überragend unter den Solisten der mächtige Bass des Riccardo Zanellato, schöne Tenorstimme von Antonio Poli, sehr guter Sopran (Anna Pirozzi) und Mezzo (Veronica Simeoni).

Die eigentliche Sensation des Festivals war in der ungeteilten Meinung des Publikums die von Verdi für die Opéra Paris konzipierte Kreuzfahrer-Oper Jérusalem. Wieder unter der sicheren musikalischen Stabführung von Daniele Calligari sangen Ramon Vargas als hervorragender Tenor (Gaston) und Annick Massis melodiös als seine Geliebte Hélène. Unbestrittene Stars des Abends waren die Baritone Pablo Galvez als Graf von Toulouse und als sein Bruder Roger der imposante Michele Pertusi. Die musikalischen Leistungen, vor allem des Chors, waren überragend – doch geradezu überwältigend war die Inszenierung (Hugo de Ana, der auch für das grandiose Bühnenbild und die prachtvollen Kostüme verantwortlich war) mit ihren phänomenalen illusionistischen Effekten und atemberaubenden Wüstenszenen.

Das „Festival Verdi“ bietet nicht nur grandiose Inszenierungen und Orchesterkonzerte wie das Requiem, sondern auch ein anspruchsvolles Rahmenprogramm: So werden samstags und sonntags am Mittag Lunchtíme-Vorträge unter dem Titel „Mezzogiorno in Musica“ angeboten, mit einem kundigen Referenten, der (in italienischer Sprache) Themen wie „Verdi und die französische Oper“ in anregender Weise präsentiert, sekundiert von jeweils zwei hervorragenden Opernsängern und Sängerinnen, welche die passenden Musikbeispiele beisteuern. Weiter wird dem Publikum die Möglichkeit geboten, die Regisseure der Produktionen und deren Konzepte persönlich kennenzulernen. Außerdem wird das Programm „Verdi young“ angeboten, das auf Kinder zwischen drei und zehn Jahren ausgerichtet ist und sie altersgerecht mit Verdis Musik und Theater vertraut machen soll.

Der Journalist Dr. Charles E. Ritterband schreibt exklusiv für klassik-begeistert.at. Er war für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) Korrespondent in Jerusalem, London, Washington D.C. und Buenos Aires. Der gebürtige Schweizer lebt seit 2001 in Wien und war dort 12 Jahre lang Korrespondent für Österreich und Ungarn. Ritterband geht mit seinem Pudel Nando für die TV-Sendung „Des Pudels Kern“ auf dem Kultursender ORF III den Wiener Eigenheiten auf den Grund.

2 Gedanken zu „Festival Verdi 2017,
Parma und Busseto“

  1. zu Teatro Pilotto: Zur Präzisierung des anfangs geschilderten hölzernen Theaterbaus, des sogenannten Teatro Pilotto, sei gesagt: Nicht Brandbomben zerstörten zu etwa 90 Prozent den Saal, sondern Gott sei Dank nur „gewöhnliche“ Sprengbomben. Der Saal wäre sonst zur Gänze niedergebrannt und mit ihm wahrscheinlich der gesamte Palazzo. Teile der Wandverkleidungen und das Bühnenportal blieben erhalten, der beachtliche Rest musste natürlich wieder rekonstuiert werden.
    So ein Brandbombenschicksal hätte auch die Scala di Milano zur Gänze zerstört, das blieb aber auch ihr erspart.
    P. Skorepa

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