Titelbild: ©Volker Kreidler
Franz Schubert, Winterreise
Pierre Boulez Saal, Berlin, 08. März 2018
Matthias Goerne, Bariton
Leif Ove Andsnes, Klavier
von Yehya Alazem
Kaum ein anderer Saal ist für einen Liederabend so geeignet wie der Pierre Boulez Saal in Berlin. Das Publikum sitzt nur einige Meter von den Musikern entfernt, und die Atmosphäre im Saal ist unglaublich intim. An diesem Abend bieten zwei Ausnahmemusiker den Zuhörern das Meisterwerk von Franz Schubert, die Winterreise, den Zyklus mit 24 Liedern.
Der in Weimar geborene Bariton Matthias Goerne ist momentan einer der meist gefragten Sänger in den Opern- und Konzerthäusern der Welt. Vor allem im Lied-Bereich hat er sich mit seinen Interpretationen der Lieder von Schubert und Schumann einen großen Namen gemacht. Die Winterreise hat er schon mit Graham Johnson, Christoph Eschenbach und Alfred Brendel aufgenommen. Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes ist seit Anfang der 1990er Jahre einer der berühmtesten Pianisten der Welt. Die Winterreise hat er bereits mit dem britischen Tenor Ian Bostridge aufgenommen.
Goerne und Andsnes geben eine äußerst persönliche Darbietung, die als eine Wanderung zwischen Emotionswelten betrachtet werden kann. Wir hören eine Reise durch enorme Gefühle, durch das Leiden, das Leben und den Tod eines Menschen. Die musikalische Darstellung dieses Liedzyklus‘ verkörpert Goerne als wäre es eine Rolle in einer Oper.
In „Gute Nacht“ nimmt Goerne den Abschied von sich selbst und singt, als würde er seine Geschichte einem kleinen Kind im Saal erzählen. Mit weichem, feinem Timbre und nuanciertem Übergang zwischen Höhen und Tiefen introduziert er uns seine Welt, in der er sich nicht findet. In „Die Wetterfahne“ zeigt er eine hervorragende Differenzierung zwischen den Gefühlen mit schönen leisen Tönen und temperamentsvollen Ausbrüchen.
Dann beginnt ein Dialog zwischen Goerne und Andsnes. Goerne ist wie ein fragendes Kind und Andsnes, mit seinem subtilen Klavierspiel, ist der kluge Vater. Die „Erstarrung“ singt Goerne auf existentialistische Art und Weise, als er seine Hoffnungslosigkeit bei der Wanderung durch den Schnee ausdrückt.
Andsnes agiert wie ein Ratgeber. Er bildet eine symphytische Klangwelt, und Goerne sieht manchmal das kleine Licht, bricht aber immer in seine Frustration aus. Goerne kämpft zwischen Hoffnung und Verzweiflung, er ist immer fragend, und Andsnes versucht, ihm zu antworten. Mit der Zeit drückt Goerne die Erschöpfung des suchenden Menschen aus, und im letzten Lied „Der Leiermann“ hat dieser Mensch nichts mehr zu geben. Die Hoffnung ist erloschen.
Das ist eine emotionale, existentialistische Reise, die von Andsnes und Goerne dargestellt wird, als wäre sie ihre eigene Lebensgeschichte. Starke Ausdruckskraft, Selbstbewusstsein, die Textverständlichkeit von Goerne, die sublime Begleitung von Andsnes, und vor allem die phantastische Kommunikation zwischen den beiden, als wären sie ein einziger Musiker, machen diesen Liederabend einfach unvergesslich.
Yehya Alazem, 11. März 2018
für klassik-begeistert.de
Titelbild: ©Volker Kreidler