Guta Rau inszeniert in St. Gallen eine gelungene La Bohème ohne Schnickschnack

Giacomo Puccini La Bohème (1896)  Theater St. Gallen, 18. Oktober 2025 PREMIERE

Foto: La Bohème Foto: Ludwig Olah Auf dem Bild: Sylvia D’Eramo (links), Brian Michael Moore (rechts)

Das Publikum feierte die Premiere herzlich und einhellig. Wer eine wirklich schöne Bohème sehen will: Auf nach St. Gallen!

Giacomo Puccini
La Bohème (1896)

Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas
Inszenierung: Guta Rau
Kostüm: Melina Poppe
Dramaturgie: Daniel Url
Choreinstudierung: Filip Paluchowski
Einstudierung Kinderchor: Terhi Kaarina Lampi
Regieassistenz: Pady Zlatanovski

Chor des Theaters St.Gallen/Opernchor St.Gallen,
Sinfonieorchester St.Gallen

Theater St. Gallen, 18. Oktober 2025 PREMIERE


von Julian Führer

La Bohème ist ohne Zweifel ein Kernstück des Repertoires und wird daher an vielen kleineren und größeren Häusern immer wieder neu gezeigt.

In den letzten Jahren gab es das Stück in der Deutschschweiz sowohl in Basel (Daniel Kramer) als auch in Zürich in einer Lesart von Ole Anders Tandberg und in Bern in der ambitionierten, überzeugenden Regie von Matthew Wild zu sehen, dazu in Freiburg in einer Deutung von Frank Hilbrich. Sowohl Wild als auch Hilbrich unterstrichen die sorglose, manchmal auch verantwortungslose Lebensweise einer Art Studenten-WG, deren mehr eingebildete als echte Probleme zu einer Einstellung führen, die dem echten Leiden der Mimi nicht gewachsen ist. Nun war es an Guta Rau, in St. Gallen ihre Version zu präsentieren.

Das Bühnenbild (Isabelle Kittnar) ist einfach gehalten: ein paar Stellwände, die die Fenster und Türen eines Innenraums abstecken. Rodolfo und Marcello (Vincenzo Neri), später auch Schaunard (Felix Gugli) und Colline (Jonas Jud) versichern sich gegenseitig ihrer recht armseligen Situation und frieren – auf der Bühne in Mänteln und im Scheinwerferlicht nicht ganz einfach plausibel zu machen.

Richtig Fahrt nimmt die Inszenierung auf, als der Vermieter Benoît (Riccardo Botta) die Miete einfordert und von den jungen Künstlern um den Finger gewickelt wird. Doch kann kommt Mimi (Sylvie D’Eramo) und lässt Rodolfo sich sofort in sie verlieben. Puccini sprüht im ersten Akt vor Ideen und komponiert einen „Hit“ nach dem anderen: Che gelida manina (Brian Michael Moore mit hellem Timbre und viel Schmelz), Mi chiamano Mimi (im Einklang mit der Partitur tastend begonnen und sich dann aufschwingend), O soave fanciulla (beide stimmlich und szenisch in perfekter Harmonie). Einen Kontrast zur eher grauen Szenerie bieten die recht farbigen Kostüme der Künstler (Melina Poppe).

Foto: Ludwig Olah. Auf dem Bild: Brian Michael Moore (links), Vincenzo Neri (rechts)

Der zweite Akt ist in den meisten Inszenierungen ein munteres Gewusel, so auch hier. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, und die jungen Künstler zechen in einem Lokal, das sie sich eigentlich nicht leisten können.

Marcello ist, modern gesprochen, in einer On-Off-Beziehung mit Musetta, die sich nebenher noch Arcindoro als Liebhaber und vor allem Finanzier hält (heute würde man ihn Sugar Daddy nennen – noch einmal Riccardo Botta, jetzt mit herrlich alberner Geckenfrisur). Ihre Leichtfertigkeit, die sie in Quando m’en vò darlegt, wird vom Damenchor in einer vielleicht nicht unbedingt nötigen Choreographie unterstützt, die aber szenischen Stillstand vermeiden hilft. Kali Hardwick verlieh dieser oft auf den Vamp reduzierten Figur der Musetta ein plausibles, am Ende auch anrührendes Porträt.

Gegen Ende des Aktes werden Rodolfo und Mimi auf einer Sitzbank in die Luft gezogen und schweben über allem; Marcello und Musetta fahren ebenfalls in die Höhe, allerdings einzeln auf zwei Stühlen, und erst als Alcindoro außer Sichtweite ist, kann Marcello sie zu sich hinziehen – ein schönes Bild. Beeindruckend in diesem Teil waren die Reaktionsschnelligkeit des Orchesters unter Modestas Pitrenas und die Exaktheit, mit der der Chor (Einstudierung Filip Paluchowski) das komponierte und wohlarrangierte Pseudochaos meisterte – auch der Kinderchor (Einstudierung Terhi Kaarina Lampi) setzte hier Maßstäbe, die an anderen, größeren Häusern nicht immer erreicht werden.

Der dritte Akt nimmt Elemente des Bühnenbilds des ersten Teils wieder auf: Auf zwei voneinander getrennten Bodenelementen sieht man wieder einmal Marcello und Musetta im Streit, im Hintergrund ist eine etwas heruntergekommene Kneipe, in der man die Schatten der Reste eines ausschweifenden Abends beim Tanzen und Torkeln sieht. Wer aus dieser Kneipe kommt, ist in einem schwer angeschlagenen Zustand. Dazu rieselt Bühnenschnee, so dass mit wenigen Mitteln klar ist, wo und in welcher Jahreszeit wir uns befinden. Mimi allerdings ist schwer erkrankt und krümmt sich vor Husten; sie erfährt erst beim Belauschen eines Gesprächs zwischen Rodolfo und Marcello, dass sie nicht mehr lange leben wird. Die Regie von Guta Rau bleibt hier ganz eng am Libretto.

Foto: Ludwig Olah. Auf dem Bild: Felix Gygli, Jonas Jud, Vincenzo Neri, Sylvia D’Eramo, Brian Michael Moore (v.r.n.l.), Chor des Theaters St.Gallen, Opernchor St.Gallen

Im vierten und letzten Akt löst sich die Regie etwas von der Vorlage und zeigt unter Rückgriff auf die literarische Vorlage Puccinis (Henry Murgers Scènes de la vie de bohème), dass es zumindest Marcello als Maler schließlich zu etwas gebracht hat: Wir sind auf einer Vernissage, das Publikum stößt an, feiert sich selbst und trägt einen intellektuellen Gestus vor sich her. Marcello selbst (Vincenzo Neri hier wie im ganzen Stück mit viel baritonalem Schönklang) ist den Erwartungen seiner Kundschaft entgegengekommen, inszeniert seine Kunst als wild, aber trägt jetzt Krawatte (sehr passend auch hier die Kostüme von Melina Poppe).

Die anderen Künstler sind ihrem zumindest in den Kostümen rebellischen Gestus treu geblieben und passen mit ihrem Aufzug nicht ganz in die Szenerie der Schönen und Erfolgreichen. Da platzt Mimi in die vordergründige Harmonie. Wie Marguerite in Gounods Faust rekapituliert sie im Angesicht des Todes die Musik von Kennenlernen und Verliebtsein und stirbt auf dem Fußboden der Galerie. Fast schockierend, aber absolut angemessen hier das kalte, bewusst hässliche Licht, das auf die tote Mimi gelenkt wird (Licht: Andreas Enzler).

Foto: Ludwig Olah Auf dem Bild: Sylvia D’Eramo (liegend), Brian Michael Moore, Kali Hardwick, Vincenzo Neri, Felix Gygli (v.l.n.r.)

Alle sind peinlich berührt, Rodolfo ist entsetzt, weiß aber auch nicht, was er tun soll, und beginnt als Schriftsteller, neben der Leiche in sein Schreibheft zu notieren, während der Vorhang sich schließt.

Puccini hat den Tod der Protagonistin in den folgenden Männer-sind-gewissenlos Opern Tosca und Madama Butterfly sehr mächtig inszeniert, der Tod der Mimi ist viel diskreter und erfolgt ganz konsequent am Bühnenrand, während die Besucher der Vernissage an ihren Gläsern nippen.

Diese Bohème hat alles, was eine gelungene Opernaufführung braucht: Ein zueinander passendes Sängerensemble, das auch die Glanz- und Bravourstücke der Partitur zu meistern imstande ist, und ein Orchester, das sehr engagiert und akzentuiert auf das Bühnengeschehen reagiert (und bemerkenswerterweise lauter war als bei Elektra vor ein paar Wochen, ohne dass es gestört hätte). Die Regie ist auf ihre Weise geradlinig, ohne das Stück einfach nur nachzuerzählen; sie ist nicht nur plausibel, sondern auch ästhetisch überzeugend.

Julian Führer, 19. Oktober 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Strauss, Elektra (1909) Konzert und Theater St.Gallen, 17. September 2025

Giacomo Puccini, La Bohème Staatsoper Hamburg, 12. Dezember 2024

Giacomo Puccini, La Bohème Theater Bremen, 30. November 2024 PREMIERE

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