Verdi – Das Wahre erfinden. Eine Hörbiographie von Jörg Handstein.
von Dr. Andreas Ströbl
„Buon 210esimo compleanno, Giuseppe!“, möchte man Verdi zum 9. Oktober (andere Quellen nennen den 10.) als Geburtstags-Glückwunsch zurufen, denn vor exakt 210 Jahren erblickte der vielleicht größte Opernkomponist Italiens in Le Roncole das Licht derjenigen Welt, die er mit dramatischem Klang und herrlichen Melodien zu füllen verstand.
Der kleine Ort, der sich heute stolz „Roncole Verdi“ nennt, gehörte damals zum Französischen Kaiserreich – ein bitterer Affront für all diejenigen, die sich für ein freies, einiges Italien einsetzten. Der junge Giuseppe Fortunino Francesco, wie er mit vollen Namen hieß, war sich schnell bewusst, dass er über außergewöhnliche kompositorische Fähigkeiten verfügte und die stellte er dann auch umgehend in den Dienst seiner freiheitlichen Gesinnung und damit in den der geliebten Patria Italia.
Wie wichtig der Kampf für das Risorgimento, also die mitunter hochemotional geprägte Einheitsbewegung der Italiener, für Verdis Leben und Schaffen war, das erzählt unter vielen anderen hochinteressanten Gesichtspunkten die bereits vor zehn Jahren erschienene Hörbiographie von Jörg Handstein, „Verdi – Das Wahre erfinden“ in der Reihe „BR Klassik“. Der runde Geburtstag des Komponisten ist eine hervorragende Gelegenheit, um diese sehr gut gemachte Einführung in die Musik Verdis und die Schilderung seines an Erfolgen und Rückschlägen reichen Lebens noch einmal nachdrücklich zu empfehlen.
Klar, die großen Opern kennen alle Klassik-Liebhaber und die sogenannten „Hits“ kann die ganze Welt nachsingen, bis hin zum inflationären Runterspielen des Gefangenenchores aus „Nabucco“. Aber wer von denjenigen, die das Stück gerade mal Verdi zuweisen können, weiß denn, dass das öffentliche Absingen einmal ein nicht ungefährlicher revolutionärer Akt war?
Die Hörbiographie macht das sehr greifbar und erzählt – wirklich zu Herzen gehend – von den entsetzlichen Schicksalsschlägen, die Verdi in tiefe Depression stürzten. Nach dem Tod seiner jeweils im Alter von zwei Jahren gestorbenen Kinder 1838 und 1839 starb im Folgejahr seine erste Frau Margherita. Das führte beinahe zur Aufgabe seines Schaffens, das er nach einem düsteren Jahr wiederaufnahm – zum Glück für eine ganze musikbegeisterte Welt.
Und stur konnte er sein, aber das ist mitunter absolut verständlich, denn als das Mailänder Konservatorium, das ihn 1832 arrogant abgelehnt hatte, sich später mit seinem Namen schmücken wollte, wies er die gönnerhafte Anfrage brüsk zurück.
Bisher kaum beachtet war in der Rezeption das schwierige Verhältnis zu seinen Eltern und sicher auch für viele Verdi-Fans erstaunlich ist, wie wichtig ihm seine Tätigkeiten, ja sein Stand als Landwirt war. Die Hörbiographie beleuchtet all diese wesentlichen Aspekte und so erfährt man, daß Verdi es zwar völlig in Ordnung fand, wenn irgend etwas an seinen Kompositionen kritisiert wurde, er es aber nicht zuließ, wenn ihm jemand in landwirtschaftliche Angelegenheiten dreinredete. In diesem Bereich empfand er sich viel mehr als unanfechtbarer Kenner als in der Musik. Da mögen diejenigen, für die gerade die Bühnenwerke an der Spitze der Opernliteratur stehen, den verehrten Maestro am liebsten korrigieren, aber diese ebenso selbstkritische wie eigensinnige Haltung lässt ihn noch sympathischer erscheinen.
Doch was macht denn tatsächlich sein Genie aus? „Das Wahre kopieren mag eine gute Sache sein, aber das Wahre erfinden ist besser, viel besser“, so Verdi in einem berühmten Ausspruch über seine Kunst. Bei aller leidenschaftlicher Italianità und trotz der häufigen Untermalung auch dramatischer Szenen im ¾-Takt sind es doch gerade die feinnervigen Charakterisierungen seiner Figuren und ihrer persönlichen Schicksale, die Verdi durch alles, was operndramaturgisch möglich ist, zu solcher Vitalität erweckt, daß sie zu wahrer Lebendigkeit erstehen. So ist der Titel der Hörbiographie im doppeltem Sinne zu verstehen, denn die Erfindung der Wahrheit ist bei Verdi nicht denkbar ohne das Bewußtsein, in aller Wahrhaftigkeit etwas zu schaffen, was alles miteinander verbindet – Emotionen, Schicksale, persönliche und historische Dramen – und all das eingebettet in eine Musik, die seit den ersten großen Erfolgen in den 1840er Jahren Triumphe in der ganzen Welt feiert.
In bewährter Weise ist Udo Wachtveitl der Erzähler, der wie in früheren und jüngst erschienenen Produktionen durch Charme, Humor und enormes Einfühlungsvermögen der ganzen Geschichte mit all ihren privaten und politischen Aspekten eine großartige Lebendigkeit verleiht.
Den Komponisten spricht mit Hingabe Hans Jürgen Stockerl, seiner zweiten Frau Giuseppina leiht Katja Amberger ihre wohlartikulierte Stimme. Zahlreiche weitere Zitate werden von Gert Heidenreich, Folkert Dücker und Beate Himmelstoß wiedergegeben.
Bernhard Neuhoff war auch in dieser Produktion für Redaktion und Regie verantwortlich, während Ulrike Schwarz und Fabian Zweck die Tonregie und Technik besorgten.
Ein musikalisches Finale der drei CDs bildet erfreulicherweise nicht der „Gefangenenchor“, der Triumphmarsch aus „Aida“ oder ein anderes zu oft gehörtes Stück, sondern „Suona la tromba“ („Es erschallt die Trompete“), auch bekannt als „Inno popolare“, also „Volkshymne“. Diese Hymne gibt es hier einmal in der Klavierfassung mit Max Hanft und einmal als Chorversion mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Peter Dijkstra. Verdi schuf sie im Revolutionsjahr 1848 nach einem Text des patriotischen Dichters Goffredo Mameli.
Auch echten Kennern Verdis weitet diese Hörbiographie den Horizont; diejenigen, die bislang nur die großen Arien und Chöre kannten, können sie als ausgezeichneten Einstieg in Verdis Vita und Schaffenskunst wahrnehmen.
Dr. Andreas Ströbl, 9. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
3 CDs
BR-KLASSIK 900904
Erhältlich im Handel und im BR-Shop