Best Practice ist nicht alles: Louis Lohraseb enthüllt seine Mozart-Formel, letzte Geheimnisse bleiben gewahrt

Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1  klassik-begeistert.de, 30. Mai 2024

Louis Lohraseb © Louis Erica 

Nach einem Mozart-Dirigat von Louis Lohraseb an der Staatsoper Hamburg war ich tief bewegt, wie sonst  nur bei  Richard Wagner. Fernerhin passiert das gerne mal bei Richard Strauss, wenn Salome, Elektra und FROSCH (Frau ohne Schatten) gegeben werden. Aber bei Mozart? Eine erste Überlegung diesbezüglich habe ich hier auf https://klassik-begeistert.de/auf-den-punkt-9-w-a-mozart-le-nozze-di-figaro-staatsoper-hamburg-17-mai-2024-klassik-begeistert-de-17-mai-2024/ hinterlegt, nun hat Louis Lohraseb persönlich meiner Ursachenforschung auf die Sprünge geholfen. Bitte lesen Sie nachstehend das Interview in vier Teilen.


Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1

klassik-begeistert: Ein Abend mit Mozart ist immer großartig, aber eine Wiederaufnahme von Mozarts Le nozze di Figaro gerät selten spektakulär. Bereits nach dem 1. Akt unter Ihrer Leitung fand ich mich indessen in einer anderen Welt: Es war, als ob Mozart vom Himmel herab gelächelt hätte. Bleibt Ihnen beim Dirigieren Zeit, Mozart zu genießen, so wie es Ihr Publikum tut?

Louis Lohraseb: Zunächst möchte ich mich bei Ihnen für Ihre freundlichen Worte bedanken, deren Wertschätzung mich berührt hat und die gleichzeitig Ihre Fähigkeit offenbart, das wahrzunehmen, was ich in eine Aufführung einzubringen versuche. Auch im Namen aller Personen, die an der Staatsoper Hamburg zusammengekommen waren, um die von Ihnen gesehene Leistung möglich zu machen: Wir freuen uns über Rezensionen wie die Ihre und die Ihres Kollegen Dr. Wegner. Dies ist  Belohnung für all die Stunden, die wir in den Versuch gesteckt haben, die bestmögliche Leistung für unser Publikum zu erbringen.

Mozart ist mein Lieblings-Komponist. Ich wurde 1991 in eine wundervolle Familie hineingeboren, in der niemand Musiker war und keine Affinität zur klassischen Musik vorherrschte. Kurz vor meinem dritten Geburtstag hat sich das Schicksal anlässlich eines Konzert der „Drei Tenöre“ [Anmerkung: Carreras, Domingo, Pavarotti]  in Los Angeles eingemischt. Ich habe das Konzert im Fernsehen verfolgt und es hat mich außerordentlich fasziniert, seither war ich regelrecht besessen von Oper und Klassischer Musik. Im Alter von nur sechs Jahren habe ich Klavierunterricht bekommen und gleichzeitig  Interesse am Komponieren gezeigt. Und schließlich, etwa im Alter von elf Jahren, begann meine große Bewunderung für Mozart. Er ist seither eine der kräftigsten Einflüsse meiner musikalischen Stärken.

Dirigieren ist die Kunst, eine Aufführung so zu gestalten, dass jeder sein Bestes für die Musik gibt und gleichermaßen seinen eigenen Beitrag auf dem Weg dorthin genießen kann. Es ist meine oberste Pflicht dafür zu sorgen, dass dies bestmöglich geschieht, gleichzeitig  habe ich dabei schlechterdings eine großartige Zeit.

klassik-begeistert: Noch am gleichen Abend habe ich versucht zu verstehen, wie dieser Zauber gelingen konnte. Mir war, als ob Sie alle gängigen Mozart-Dogmen und Klischees über Bord geworfen hätten, soweit diese einem gefühligen Mozartklang entgegenstanden. Schroffe und unterkühlte Klangfärbungen waren, anders als heute „best practice“, gar bei Strafe verboten. Das ist aber nur ein Aspekt dessen, was den Unterschied gemacht hat. Verraten Sie Ihre Mozart-Formel?

Peoria Symphony Orchestra / 2024 Voyage Concert © peoria symphony.org

Louis Lohraseb: Bei Mozart, wie bei jedem anderen Komponisten auch, steht für mich die Spannung zwischen Fakten und Wahrheit im Mittelpunkt. Die Fakten sind die Noten, die Mozart uns hinterlassen hat. Was der Komponist dagegen mit dieser Musik beabsichtigt hat, das ist die Wahrheit.

In diesem Zusammenhang denke ich oft an ein Zitat von Gustav Schilling aus seinem Buch „Versuch einer Philosophie des Schönen in der Musik“, in dem er über den Unterschied zwischen Ausführung und Ausdruck spricht und Folgendes sagt: Es ist zweifellos möglich, dass ein Stück ordnungsgemäß aus- und aufgeführt wird, es aber nicht gelingt, den richtigen Ausdruck zu vermitteln. Das Gegenteil, also eine gelungene Aufführung trotz fehlenden oder falschen Ausdrucks,  ist indessen unmöglich. Mit anderen Worten: Ganz gleich, wie musikalisch Sie sind. Wenn Sie nicht herausfinden wollen, was der Komponist tatsächlich gewollt hat, dann wird es unweigerlich tückisch, wenn nicht sogar niederträchtig.

Bei Mozart steht so viel von dem, was er erwartet hatte, nicht in den Noten. Das betrifft nicht nur Standardfragen wie Phrasierung, Dynamik, Artikulation, Rubato usf. Ein großer Teil der eigentlichen Musik ist nicht so notiert, wie Mozart sie hören wollte. Das ist der damaligen Aufführungspraxis geschuldet, seinerzeit wurde von den Solisten erwartet, dass sie die vom Komponisten geschriebene Melodielinie ergänzen. Derlei  Verzierungen, Ornamente oder Variationen (alles Wörter, die ich nicht mag, da sie alle möglicherweise stigmatisierende Assoziation wecken könnten) sind für eine korrekte Interpretation von Mozart unumgänglich.

Für diejenigen „Puristen“, die es nicht wagen würden, Mozart jemals zu ändern oder eine Note hinzuzufügen, ist meine übliche Antwort: Sehen Sie sich bitte das sogenannte „Krönungskonzert“ (KV 537) an. Wenn man dieses Stück in der in den Ausgaben abgedruckten Standardversion spielt oder hört, und wenn man der oben genannten Philosophie der so genannten „Puristen“ anhängt, verrät man sowohl Unwissenheit als auch Heuchelei. Denn Mozart hatte es eilig, das Stück fertig zu stellen und hat einen großen Teil der linken Hand des Soloparts nicht selbst geschrieben. Da er der Solist war, war es für Mozart überflüssig aufzuschreiben, was er ohnehin bereits wusste. Dies ist ein extremes Beispiel, aber es gibt viele weitere Belege für diesen Umstand als oftmals angenommen wird, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt.

Ob das, was der Interpret hinzufügt, „verzierend“ oder „grundlegend“ ist, ist der Kern des Problems. Mozart lieferte uns viele Beispiele dafür, wie er sich die Ausführung seiner Stücke vorstellt, und zwar im Rahmen der Veröffentlichung von Sonaten, Kadenzen und anderen variierten Passagen, die er seiner Schwester und anderen Interpreten zur Verfügung stellte.

Diese Dokumente bzw. wie viele zusätzliche Noten und „Verzierungen“  Mozart erwartet hat, das wird den scharfsinnigen Betrachter in Erstaunen versetzen. Obwohl für die Mozart-Interpretation von grundlegender Bedeutung, hat Mozart derlei Hinweise nur anlassbezogen und auf Anfrage gefertigt. Von einem professionellen Sänger wurden Verzierungen erwartet, ohne dass es einer besonderen Anleitung bedurfte. Eine Sonate konnte man dagegen  auch daheim im Wohnzimmer spielen, aber nicht allzu viele Menschen führen „Le nozze di Figaro“ zu Hause auf… Dies erklärt, warum so wenige Beispiele vokaler Verzierungen aus Mozarts Hand erhalten sind. Briefe und Anekdoten, die Mozarts Bestürzung über die  Ausführung dieser Praxis offenlegen, verdeutlichen die Wichtigkeit dieses Themas.

Peter Galliard (Don Curzio), Liam James Karai (Antonio), Yenyoo Katharina Jang (Barbarina), Julia Lezhneva (Cherubino), Krzysztof Bączyk (Figaro), Ruzan Mantashyan (La Contessa d’Almaviva), Louis Lohraseb (musikalische Leitung), Katharina Konradi (Susanna), Jacques Imbrailo (Il Conte d’Almaviva), Claire Gascoin (Marcellina), Hubert Kowalczyk (Don Bartolo) (Foto RW)

Mozarts Partituren erinnern mich an wunderschöne Skulpturen aus der Antike, deren makellose weiße Marmoroberflächen wir noch Jahrtausende später bewundern. Heute wissen wir jedoch, dass sie tatsächlich in kräftigen Farben bemalt waren. Und während es ein Sakrileg wäre, in ein Museum zu gehen und eine Statue aus Rom oder Griechenland aus der Zeit um 300 v. Chr. zu übermalen, ermöglicht uns der wundervolle ephemere Charakter der Musik, die Manuskripte so zu bewahren, wie sie sind, aber Aufführungen zu geben, die den Erwartungen von Mozart an seine Musik gerecht werden.

Und genau wie diese Skulpturen ist auch die Musik, die er uns selbst in diesen unterschiedlichen Graden der Unvollständigkeit hinterlassen hat, so perfekt, dass so viele Menschen überzeugende Darbietungen und Aufnahmen mit äußerst unterschiedlichen Interpretationen gemacht haben, von Böhm bis Jacobs.

Für mich ist es entscheidend, bei Mozart die Balance zwischen all dem zu finden. Da wir uns nicht im Jahr 1786 befinden, können wir die Bedingungen, unter denen diese Stücke zum ersten Mal gehört wurden, nicht genau nachbilden. Bei unserem Auftritt in Hamburg, den Sie besucht haben, spielte das Orchester auf modernen Instrumenten, ohne Darmsaiten, ventillose Hörner, Holzflöten usf. Ebenso wurden die Sänger in einer modernen Herangehensweise an die Opernkunst geschult.

Vor diesem Hintergrund ist es mein Ziel, die Wahrheit über Mozart herauszufinden, was auch immer das in diesem Moment sein mag.

 klassik-begeistert: So einfach geht das?

 Louis Lohraseb: Nun ja, Theatermagie ist keine Formel. Es kann nur ein wechselseitiges Phänomen zwischen Publikum und Darstellern sein. Aber wenn die Umstände gegeben sind, dass eine solche Magie geschehen kann, ist es wirklich eine der erstaunlichsten Erfahrungen für alle Beteiligten. Eine Replikation ist unmöglich. Man kann niemals versuchen, Magie zu wiederholen, das wird einem nie gelingen. Magie ist vergänglich und basiert darauf, dass Menschen am selben Ort sind und sich auf diese unbeschreibliche Weise verbinden. Dies ist zugleich eines der überzeugendsten Argumente für Live-Auftritte.

 klassik-begeistert: Ich hatte die zweite Vorstellung besucht, die dritte und letzte Vorstellung soll noch besser gelungen sein?

Louis Lohraseb: Die Möglichkeit, die zweite und dritte Aufführung so nah beieinander zu präsentieren, bot uns meiner Meinung nach die Möglichkeit, noch detailliertere Details zum Ausdruck zu bringen.

klassik-begeistert: War das Routine geschuldet, weil das Ensemble noch enger zusammengefunden hatte, oder hat sich das aus dem Moment heraus entwickelt?

 Louis Lohraseb: Ich denke, es ist eine Mischung aus Beidem.

 klassik-begeistert: Wie wichtig ist Intuition bei Mozart?

 Louis Lohraseb: Unglaublich wichtig. Intuition steht immer im Vordergrund. Wie man das musikalische Raum-Zeit-Gefüge eines Stücks im Vergleich zu einem anderen durchschreitet, ist eines der Hauptunterscheidungsmerkmale von einem Dirigenten zum nächsten, von einem Interpreten zum nächsten. Bei einer so allseits beliebten Figur wie Mozart wird dies umso wichtiger, da jeder auf der Bühne, im Orchestergraben und im Publikum seine eigene Vorstellung davon hat, wie das Stück aufgeführt werden soll. Die einzige Möglichkeit, die Fülle an Meinungen und Stigmata zu überwinden, besteht darin, auf sich selbst zu vertrauen. Außerdem  ist höchste Aufmerksamkeit erforderlich in dem Moment, in dem aus den Noten Klang wird.

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Jörn Schmidt, 30. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Teil 2/4 unseres großen Louis-Lohraseb-Interviews lesen Sie Freitag
(31. Mai 2024) hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Auf den Punkt 9: W. A. Mozart, Le nozze di Figaro Staatsoper Hamburg, 17. Mai 2024 klassik-begeistert.de, 17. Mai 2024

Ein Gedanke zu „Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1
klassik-begeistert.de, 30. Mai 2024“

  1. Lieber Herr Schmidt,

    bestätigt, was ich in Gesprächen mit Musikern erfahren habe. Vieles, was Mozart wollte, steht nicht in den Noten. Deshalb kann Mozart soooo langweilig sein. Das Spiel mit Rubati, Tempoveränderungen, Dynamik, generell Phrasierung sind das Um und Auf. Nur dann erweckt man die Magie bei Mozart zum Leben.

    Ich denke, einigen Dirigenten wird das sogar bewusst sein. Nur gelingt es einfach nicht bei jeder Aufführung, umzusetzen, was man sich vorgenommen hat. Das ist der Fun Fact, fast wie in der Lotterie, nur mit viel höherer Gewinnwahrscheinlichkeit: 1 aus 3 wäre schon eine gute Ausbeute. In diesem Bereich schätze ich die Chancen, dass man mit einem breiten Lächeln oder tiefer Ergriffenheit aus einer Vorstellung schwebt. Generell, nicht nur bei Mozart. Vorausgesetzt bereits, man hat im Vorfeld ordentlich ausgesiebt. Selbst der „Lieblingsdirigent“ oder Interpret schafft es nicht öfters.

    Jürgen Pathy

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