Jolanta Łada-Zielke und Dr. Frank Piontek in Bayreuth, Foto: privat
Fortsetzung der Wagner-Gespräche von Jolanta Łada-Zielke und Dr. Frank Piontek
klassik-begeistert: Gibt es noch frühere Konzertouvertüren Wagners vor König Enzio (1831-32), die als Theatermusik für Ernst Raupachs historische Tragödie entstand?
Dr. Frank Piontek: Ja. Wagner hat als Komponist instrumentaler Musik begonnen und Konzertouvertüren geschrieben. Einige davon sind verschollen. Die erste überlieferte ist eine Ouvertüre in d-Moll aus dem Jahr 1831. Es gibt auch eine zweite Konzertouvertüre in C-Dur. Die beiden instrumentalen Werke des jungen Wagner heißen einfach Konzertouvertüre 1 und 2.
klassik-begeistert: Hat er sie im Beethoven-Stil komponiert?
Dr. Frank Piontek: Exactement. Wagners erste Konzertouvertüre hat eine Beethovensche Struktur. Als Schüler seines Meisters hat sich Wagner am klassischen Modell orientiert. Beethoven lebte schon seit ein paar Jahren nicht mehr, aber sein Modell, das Wagner für seine erste Ouvertüre genutzt hat, war die 20 Jahre davor komponierte Coriolan-Ouvertüre. Auch die zweite Ouvertüre ist nicht so autonom, wie wir sie von Richard Wagners Werken erwarten könnten, obwohl sie passagenweise gute Kontrapunkte und ein gutes Fugato hat. Die beiden Instrumentalwerke sind Schülerarbeiten, bei denen Wagner trainiert und Beethovens Werke als Vorlage genommen hat.
klassik-begeistert: Unter Wagner-Ouvertüren nennt man am häufigsten die fünf, die ihre eigenen Namen haben. Sind diese bereits fortschrittlicher als die zwei ersten?
Dr. Frank Piontek: Tatsächlich sind sie etwas fortschrittlicher, aber noch nicht richtig gut, das heißt eigenständig. Die erste wirklich gute war die Faust-Ouvertüre, die Wagner ursprünglich als den ersten Satz einer Faust-Symphonie konzipierte. Er komponierte sie 1839/40 in Paris. Alle anderen Ouvertüren – auch die zu den Feen, die gar nicht so schlecht ist – weisen immer noch einige Merkmale einer soliden Schularbeit auf, und wir können sie noch nicht als geglückte Kunstwerke bezeichnen.
klassik-begeistert: Lassen wir uns mit König Enzio anfangen. Hat der Komponist diese Ouvertüre ausschließlich als Auftragswerk geschrieben oder interessierte er sich bereits für die deutsch-italienische Geschichte des 13. Jahrhunderts?
Dr. Frank Piontek: Ich glaube nicht, dass er sich schon damals dafür interessierte und würde den Zusammenhang nicht überbewerten. Wagner hat einfach die Musik zu einem populären Historiendrama komponiert, sodass man die Ouvertüre auch einzeln spielen könnte. Und man hat sie tatsächlich im Gewandhaus in Leipzig aufgeführt. Das Libretto Die Sarazenin, was ein Stauferthema ist, hat Wagner erst neun Jahre später geschrieben. Ich glaube, beim König Enzio war dies ein reiner Zufall. Mit diesem zehn Minuten dauernden Stück wollte der junge Komponist einfach in die Öffentlichkeit gehen.
klassik-begeistert: Diese Ouvertüre klingt so narrativ wie eine sinfonische Dichtung, obwohl diese Gattung damals noch nicht existierte. Aber der Einfluss Beethovens ist dort deutlich zu hören.
Dr. Frank Piontek: In diesem Sinne kann die Coriolan-Ouvertüre ebenfalls als quasi sinfonische Dichtung bezeichnet werden, weil sich das Werk auf ein historisches Drama bezieht und fast eine Geschichte erzählt. Man kann dort zwei Themen – das lyrische und das heroische – finden. Mit sinfonischer Dichtung haben wir es erst bei Berlioz, Liszt und Strauss zu tun, weil diese Gattung eine strengere Form verbietet. Sie repräsentiert einen anderen Stil und hat andere Formgesetze. Bei Wagner haben wir es mit normalen, für die 1820er und 1830er charakteristischen Konzertouvertüren zu tun. Dort gibt es zwei, manchmal drei Themen, die entgegengesetzt sind. Beethoven hat es geschafft, seine Themen zu entwickeln, Wagner schaffte das damals noch nicht.
klassik-begeistert: Die nächste Ouvertüre – Columbus in Es-Dur –entstand in Jahren 1834-35 auch als Musik für ein Theaterstück. Hier höre ich schon die Keime von dem Fliegenden Holländer, und der Trompeteneinsatz erinnert mich stellenweise an den Einzug der Gäste in Tannhäuser.
Dr. Frank Piontek: Im Trompetenmotiv kann man hier sogar das sogenannte „Rheingoldmotiv“ herauszuhören. Dies ist natürlich ein Zufall. Ich gebe zu bedenken, dass die mitteleuropäische Musik aus 12 Tönen besteht. Deshalb kommt man auf die Themen, die zufälligerweise ähnlich klingen. Die verbindenden Motive existieren bei Richard Wagner zweifellos, von seinen ersten Werken, die wir kennen, praktisch bis zum Schluss. Dann trifft man ganz merkwürdige Episoden. In der ersten Konzertouvertüre, die noch kein besonders gutes Stück ist, gibt es bereits zwei Takte, die wie aus dem Parsifal klingen, als ob Wagner das Stück in den späten 1870er Jahren bearbeitet hätte. Solche Zufälle sind typisch für Genies. In den frühen Sinfonien Mozart gibt es ja auch Passagen, die an Stellen in seinen reifen Sinfonien erinnern. Solche Verbindungen zwischen den frühen und späteren Werken gibt es auch bei Mendelssohn.
klassik-begeistert: In der Partitur von Columbus kann man die Wellen sogar in der grafischen Notation sehen. Die Stimmung ist aber heiterer als im Fliegenden Holländer.
Dr. Frank Piontek: Das ist ein verbindendes Motiv, was man schon seit dem Barock nutzt, um Wasser oder eine Meerfahrt darzustellen. Dieses Verfahren ist einigermaßen logisch, weil Columbus auf dem Meer spielt, denn der Komponist malt hier eine Seefahrt. Wagner schildert damit die Freude, mit der Christoph Kolumbus ein neues Land entdeckt. In dem Sinne ist das ein ganz unproblematisches Stück mit einer sehr positiven, affirmativen Konnotation.
klassik-begeistert: Hier gibt es wieder einen Bezug zu Beethoven, nämlich eine ausgedehnte Kadenz.
Dr. Frank Piontek: Ja, dies ist ein Problem bei Wagners früheren Ouvertüren. Selbst wenn die Musik aus ist, spielt sie doch noch weiter. Wenn eine Ouvertüre neun oder zehn Minuten dauert, hat der Hörer den Eindruck, dass das Material nach fünf Minuten erschöpft ist. Wagner schafft es nicht, seine Motive so zu entwickeln, wie er es später gemacht hat. Er wiederholt sie immer wieder. Dies ist nicht besonders spannend und unterscheidet ihn von Beethoven oder Brahms, die es schaffen, aus einfachen Motiven ganze sinfonische Sätze zu bauen. Der junge Wagner verfügt noch nicht über diese Fähigkeit. Die frühen Ouvertüren sind schon nach 5 Minuten eigentlich zu Ende, dann wiederholt sich die Melodie endlos. Im späten Wagner gibt es ebenfalls Längen, diese sind aber ausgefüllt.
klassik-begeistert: Jetzt komme ich mit Herzklopfen zu der Polonia-Ouvertüre in C-Dur (1836), die sich auf mein Land bezieht. Sie enthält unter anderem Zitate aus zwei polnischen patriotischen Liedern, die damals in Deutschland als sogenannte Polenlieder bekannt waren: Dritter Mai sowie zwei Takte aus Noch ist Polen nicht verloren, das 1927 zur polnischen Nationalhymne wurde. Ich habe mich sehr gefreut, als die Deutsch-Polnische Gesellschaft Bayreuth eine Aufführung dieses Werks anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens organisierte.
Dr. Frank Piontek: Die Polonia-Ouvertüre zeigt, wie sich Wagner in seinen Opern und Konzertstücken von Werk zu Werk weiterentwickelt hat. Er war der ewig Lernende. Gerade bei der Polonia-Ouvertüre kann man feststellen, dass jede Ouvertüre schon besser als die vorherige ist. Die Polonia-Ouvertüre ist nicht mehr so schematisch, sondern kurzweiliger und gut instrumentiert. Es ist zwar kein geniales, aber ein schneidiges und unterhaltsames Konzertstück, mit verschiedenen aufgestellten und bearbeiteten Themen. Natürlich ist es programmatisch, und man kann es vielleicht als eine Vorform der sinfonischen Dichtung bezeichnen. Bei der Arbeit daran hat Wagner sein Handwerk schon besser verstanden, und das Material ziemlich gut bearbeitet.
klassik-begeistert: Die nächste ist die Rule-Britannia-Ouvertüre in D-Dur aus dem Jahr 1837. Höre ich dort richtig den Siegfried in dem Glockenspiel, Trompeten und Paukeneinsatz?
Dr. Frank Piontek: Wie gesagt, besteht die mitteleuropäische Musik nur aus 12 Tönen. Wenn ähnliche Sachen vorkommen, muss es nicht heißen, dass sich der Komponist Jahrzehnte später, bei der Arbeit an Siegfried, gerade an diese Ouvertüre erinnert hat. Als Wagner einmal in Bayreuth mit einem Jugendwerk konfrontiert wurde, hat er gefragt, von wem das Stück ist. Natürlich gibt es Zitate zwischen seinen Opern: der Tristan-Akkord kommt ganz bewusst wieder im Parsifal vor, und im dritten Akt der Meistersinger wird der Tristan zitiert. Aber bei seinen jungen Werken würde ich das nicht hochhängen. Rule Britannia und die Polonia-Ouvertüre gehören zu sogenannten „politischen Ouvertüren“. Beide klingen in Konzerträumen sehr gut.
klassik-begeistert: Wagner wollte die Partitur der Rule-Britannia-Ouvertüre an Großbritannien verkaufen, das ist aber nicht gelungen.
Dr. Frank Piontek: In den späten 1830er schrieb er Briefe nach England, die zum Teil kaum bekannt sind. Die Empfänger waren Musiker und Theaterdirektoren. Wagners Bemühungen blieben vergeblich, weil er zu der Zeit ein No-Name war und niemand ihn kannte. Wagners Werke haben es damals noch nicht über die Grenzen Deutschlands hinausgeschafft. Dies geschah erst mit Rienzi, und seit Tannhäuser ist Wagner zu einem Komponisten von europäischem Rang geworden. Als großer Opernkomponist kümmerte er sich dann nicht mehr darum, seine Konzertouvertüren zu fördern.
klassik-begeistert: Ist die Faust–Ouvertüre die Krönung von dem ganzen Zyklus?
Dr. Frank Piontek: Selbstverständlich. Der Faust entstand, als Wagner bereits Rienzi komponierte. Manche Musikwissenschaftler halten Faust für das erste wirklich ganz originelle Werk von Richard Wagner. Obwohl der Komponist hier ein ähnliches Material wie in den früheren Ouvertüren bearbeitet, macht er es sehr souverän und gibt alle Schemata auf. Bedauerlicherweise kennen wir als Hörer nur die zweite Fassung dieser Ouvertüre aus dem Jahr 1855. Die ursprüngliche Fassung existiert noch, man hat sie aber nie eingespielt. Also können wir uns kein richtiges Bild davon machen. Wir wissen nur, dass, bevor Wagner Tristan und Isolde schrieb, er eine Ergänzung zur Faust-Ouvertüre komponierte, die nach Tristan klingt. Das Stück ist hoch originell und tendiert zu einer sinfonischen Dichtung.
klassik-begeistert: Wie gehen Dirigenten und Musikwissenschaftler mit den Konzertouvertüren Wagners um?
Dr. Frank Piontek: Stiefmütterlich. Der einzige Grund, warum sie überhaupt oder ganz selten gespielt werden, ist, dass Richard Wagner sie komponiert hat. Ansonsten wären sie bis zur Faust-Ouvertüre völlig verschollen. Ich selber habe kaum eine Aufführung dieser Werke miterlebt. Man hält sie für Schularbeiten eines Mannes, der gerade sich zum Genie entwickelt, was eine Weile gedauert hat. Zwar sind diese Ouvertüren oft substanzlos, aber dank ihnen können wir systematisch verfolgen, wie sich Wagners Schaffen von Werk zu Werk weiterentwickelte.
Man darf nicht vergessen, dass Wagner nicht als großer Opernkomponist auf die Welt gekommen ist und seine ersten Werke rein instrumental waren. In seinen Konzertouvertüren gibt es Phrasen, die man einordnen kann, wenn man alles von Wagner kennt. Wenn man mit den Feen und dem Fliegenden Holländer vertraut ist, wird man schon einiges von diesem Ton in den Ouvertüren. Ohne sein Handwerk vorher an diesen Ouvertüren erprobt zu haben, hätte Wagner den Holländer nicht schreiben können. Jedes Genie fängt bei Null an, und dies sehen wir bei Wagner ganz deutlich.
klassik-begeistert: Lohnt es sich überhaupt für die Wagnerianer, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Dr. Frank Piontek: Man vermag einen Meister nur dann richtig einzuschätzen, wenn man alles von ihm kennt; auch die jugendlichen Sachen, die etwas minderwertiger sind. Erst dann können wir begreifen, wie er zu seiner unvergleichlichen Meisterschaft gekommen ist und aus welchem menschlichen Maß er das gemacht hatte. Wir merken, dass er als Meister zwar vom Himmel gefallen ist, er aber durch eine harte Schule gehen musste.
klassik-begeistert: Wer nie Schüler war, kann kein Meister werden.
Dr. Frank Piontek: Tatsächlich, und dies hat Wagner selbst in den Meistersinger ausgedrückt: die alten Meister sind wichtig, aber gleichzeitig müssen die Jungen einen neuen Ton finden. Die Ouvertüren zeigen, wie das Alte sich mit dem Neuen immer besser vereinigt und der Komponist mit jedem dieser sogenannten Nebenwerke einen weiteren Schritt in die Zukunft macht.
klassik-begeistert: Vielen Dank für das Gespräch.
Hier sind die Konzertouvertüren von Richard Wagner zu hören:
OVERTURE TO KING ENZIO by Richard Wagner {Audio + Full score} (youtube.com)
COLUMBUS OVERTURE by Richard Wagner {Audio + Full score} (youtube.com)
POLONIA OVERTURE by Richard Wagner {Audio + Full score.} (youtube.com)
Rule Britannia! (WWV 42) by Richard Wagner {Audio + Full score} (youtube.com)
Eine Faust Ouvertüre – Richard Wagner (1855 version) (youtube.com)
Interview: Jolanta Łada-Zielke im Gespräch mit Dr. Frank Piontek klassik-begeistert.de, 11. Mai 2024