Interview: Das Klassik-begeistert Glocken-Special mit dem Orchestre symphonique de Montréal

Interview: KB im Gespräch mit Rafael Payare und Sébastien Almon  klassik-begeistert.de, 6. November 2024

© Antoine Saito 2024

Das 1934 gegründete Orchestre symphonique de Montréal mit Sitz in der kanadischen Stadt Montreal gilt als eines der weltweit führenden Sinfonieorchester. Zu den Chefdirigenten zählten Otto Klemperer, Igor Markevitch, Zubin Mehta und Kent Nagano. Aktuell hält Rafael Payare diese Position, Orchesterdirektor ist Sébastien Almon.  Da mag man gar nicht glauben, dass man in Montreal 90 Jahre lang ohne ein wichtiges Instrument auskommen musste. Jetzt ist es so weit, im Juni 2024 wurden vier Orchesterglocken geliefert, sechs weitere folgen diesen November.

Jörn Schmidt im Gespräch mit Rafael Payare und Sébastien Almon

klassik-begeistert: Sein 90-jähriges Bestehen feiert das Orchestre symphonique de Montréal (OSM) mit einer Europa-Tournee und ist gleich drei Mal in Deutschland zu Gast. Am 24. November in Hamburg, am 25. November in Berlin und am 28. November in München. Bekommen wir in Hamburg bereits die neuen Orchesterglocken zu Gehör?

Sébastien Almon: Ja!  Insgesamt haben wir zehn Glocken in Auftrag gegeben. Im vergangenen Juni wurden vier Glocken geliefert, zwei davon nehmen wir mit auf unsere  Europatournee. Sie werden anlässlich unserer drei Deutschland-Konzerte in Hamburg, Berlin und München läuten,  während des fünften Satzes von Berlioz’ Symphonie Fantastique.

klassik-begeistert: Auch Mahler ist ohne ausgewachsene Orchesterglocken kaum vorstellbar. Bei all den berühmten Dirigenten, mussten Sie bislang Orchesterglocken für Ihre Konzertprojekte mieten?

Sébastien Almon (Orchesterdirektor OSM), Rafael Payare (Chefdirigent OSM), Serge Desgagné (Perkussionist OSM) © Antoine Saito 2024

Sébastien Almon: Im vergangenen September haben wir zum ersten Mal in der Geschichte von OSM auf echten Glocken (carillon bells) gespielt. Bis dahin haben wir für die Glockenparts Röhrenglocken (tubular bells) genutzt. Also nein, wir haben anlässlich eines unserer Konzerte noch nie Glocken  gemietet.

klassik-begeistert: Fein, wird mancher sagen. Jetzt hat das OSM endlich neue Glocken, die klingen super. That’s it. Aber ist das wirklich alles, oder hat die Neuanschaffung Einfluss auf die künftige Entwicklung der Klangkultur Ihres wundervollen Orchesters? Zum Beispiel die Klangfarben?

Rafael Payare: Der Klang echter Glocken ist einzigartig und ihr Einfluss auf den Orchesterklang auffällig und sehr offenkundig. Resonanz und Obertöne, wie sie Orchesterglocken ermöglichen, sind beispielsweise mit Röhrenglocken so nicht machbar. Der Klang der Glocken erfüllt den Konzertsaal manchmal fast eine Minute lang mit seinen Obertönen. Die Textur, die Klangfarbe und ihre Fülle sind einfach überlegen.

Rafael Payare (Chefdirigent OSM) © Antoine Saito 2024

klassik-begeistert: Wie stimmt man eigentlich eine Glocke?

Sébastien Almon: Natürlich lässt sich eine Glocke nicht so einfach stimmen wie ein Cello oder ein Klavier! Die Glocken wurden von der Royal Eijsbouts-Gießerei gestimmt, nachdem sie gegossen wurden. Dies geschieht durch einen komplexen Prozess, bei dem Stück für Stück Bronze entfernt wird, sodass die Tonhöhe mit einer für das Ohr unhörbaren Präzision eingestellt wird.

klassik-begeistert: Die größte der Glocken wiegt locker 400 kg, würde ich schätzen. Haben Sie genaue Zahlen, liege ich vielleicht komplett falsch?

Sébastien Almon: So überraschend es klingen mag, unsere Glocken sind gar nicht so schwer. Für uns war es eine wichtige Vorgabe, Glocken zu haben, die einfach transportiert werden können. Die beiden Glocken, die wir auf Tour dabeihaben, sind ein tiefes G und ein mittleres C. Das G wiegt 323 kg und das C 128 kg.

Serge Desgagné (Perkussionist OSM) © Antoine Saito 2024

klassik-begeistert: Wie stemmt man das auf Tournee?

Sébastien Almon: Wie viele andere Instrumente und Schlaggeräte verfügen auch unsere Glocken über Transportkisten auf Rädern, wodurch sie leicht zu verstauen, zu transportieren und zu schützen sind. Sie können in wenigen Minuten verstaut werden.

klassik-begeistert: Glockengießerei ist eine Wissenschaft für sich, können Sie den Vorgang trotzdem mit wenigen Worten beschreiben?

Sébastien Almon: Zunächst wird die Glocke am Computer entworfen: Man legt Größe, Form, Verzierung usw. fest. Dann wendet die Gießerei das Wachsausschmelzverfahren (lost waxing method, ein Formverfahren für den Metall- und Glasguss) an: Die Glocke einschließlich ihrer Verzierungen wird in Wachs modelliert und dann mit Ton gefüllt. Sobald der Ton ausgehärtet ist, wird er erhitzt, um das Wachs wegzuschmelzen. An seiner Stelle wird geschmolzenes Metall eingegossen, wodurch die Gussform entsteht.

© Antoine Saito 2024

klassik-begeistert: Orchesterglocken haben einen unverwechselbaren Klangcharakter, man assoziiert sie unweigerlich mit Religion und Kirche. Vor allem klingen sie anders als Röhrenglocken, wie sie jedes Orchester vorhält. Könnten Sie die klanglichen Unterschiede bitte näher beschreiben?

Sébastien Almon: Während die Röhrenglocke für die überwiegende Mehrheit der Orchester der Standard ist und im Allgemeinen einen guten Klang bietet, kann sie die Glocke doch nur imitieren, geschweige denn erreichen. Die echte Glocke hat einen viel komplexeren, kraftvolleren und räumlicheren Klang als die Röhrenglocke. Die Resonanz beziehungsweise der Nachhall dieser Glocke ist im Übrigen viel länger und anhaltender. Zugleich sind die Obertöne viel klarer und deutlicher.

klassik-begeistert: Wagners Parsifal-Gralsglocken wiederum sind etwas ganz anderes, die kommen gar nicht aus einer Gießerei?

Sébastien Almon: Die Parsifal-Glocken sollen den Klang einer Kirchenglocke nachahmen. Aber in Wirklichkeit ähnelt das Instrument eher einem Klavier als einer Glocke. Es handelt sich um einen Resonanzboden, der mit Schlägeln angeschlagen wird, um die Obertöne einer Glocke zu imitieren.

klassik-begeistert:  Orchesterglocke ist nicht gleich Orchesterglocke, so wie auch Geige nicht gleich Geige ist. Man denke nur an Antonio Stradivari, Giuseppe Guarneri del Gesù und Nicola Amati, die Holzbehandlung zum Beispiel hatte großen Einfluss auf den Klang ihrer Geigen.  Was war Ihnen wichtig, welche Anforderungen haben Sie an den Klang der OSM-Glocken gestellt?

Rafael Payare (Chefdirigent OSM) © Antoine Saito 2024

Rafael Payare: Das OSM ist ein hochkarätiges Orchester, daher ist der Anspruch an die Glocken genauso hoch. Wir brauchten eine Gießerei, deren Glocken der Klangqualität unseres Orchesters in nichts nachstehen. Nach umfangreichen Recherchen war unsere Wahl klar: Royal Eijsbouts. Für mich sind diese Glocken eine Quelle großen Stolzes und so prestigeträchtig wie eine Stradivari.

klassik-begeistert: Wie ist die Royal Eijsbouts Foundry, also die niederländische Glockengießerei, mit diesem Lastenheft umgegangen? War alles machbar?

Sébastien Almon: Ja, Royal Eijsbouts hat eine lange Geschichte im Gießen von Orchesterglocken und hat eine ausgezeichnete Expertise entwickelt, um auf die spezifischen Bedürfnisse von Orchestern einzugehen. Die Zusammenarbeit mit ihnen verlief reibungslos und kooperativ.

klassik-begeistert: Über Geld wollen wir nicht sprechen, aber ein Schnäppchen war das Orchesterglocken-Set sicher nicht. Wie haben Sie Roger Dubois beziehungsweise die Groupe Canimex für dieses Projekt begeistern können?

Sébastien Almon: Roger Dubois ist ein wichtiger Förderer des OSM. Er hat uns in den letzten Jahren drei Oktobässe sowie mehrere Saiteninstrumente als Leihgabe überlassen. Die Idee mit den Glocken gibt es schon seit mehreren Jahren, und Canimex hat sich mit großer Begeisterung auf das Projekt gestürzt. In vielerlei Hinsicht sind Roger Dubois und Canimex vollwertige Mitglieder der OSM-Familie.

klassik-begeistert: Auch Shostakovich, Strauss und Mussorgsky erfordern hier und da Orchesterglocken. In welchem Werk ist die Rolle der Orchesterglocken nach Ihrem Dafürhalten besonders prominent beziehungsweise bedeutend?

Rafael Payare: Wenn ein Komponist einer Partitur Glocken hinzufügt, steckt hinter dieser Wahl eine klare musikalische Absicht. Wenn wir an Berlioz’ Symphonie Fantastique denken, repräsentieren die Glocken das Totengeläut in der Unterwelt. Dasselbe gilt für Shostakovichs 11. Symphonie, in der die Glocken den Sieg der sowjetischen Revolution symbolisieren. Es ist wichtig, die Emotionen und Absichten zu vermitteln, die der Wahl des Komponisten zugrunde liegen. Glocken sind die einzige Möglichkeit, diesen Wunsch des Komponisten auszudrücken.

Rafael Payare (Chefdirigent OSM) © Antoine Saito 2024

 klassik-begeistert: Sind bereits Auftragswerke für Orchesterglocken vergeben?

Sébastien Almon: Wir haben das Glück, in den nächsten Wochen sechs neue Glocken zu bekommen. Dann werden wir zehn Glocken besitzen und Auftragswerke vergeben! Lassen Sie sich überraschen…

klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!

Jörn Schmidt, 6. November 2024, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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